Rubrik im PS: | Naturwissenschaften / Medizin |
Autor: | k.A. |
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Leitlinienentwurf: Schmerztherapie in der Geriatrie
Die Koordinatorinnen und Koordinatoren der für Anfang 2025 angekündigten S3-Leitlinie "Schmerzmanagement bei GERiatrischen PAtIeNt:innen" (GeriPAIN) stellten auf dem Deutschen Schmerzkongress erste konsentierte Empfehlungen zur Diskussion.
Ein hohes Lebensalter und die damit häufig einhergehenden Erkrankungen sind mit einer erhöhten Prävalenz sowohl von akuten als auch von chronifizierten Schmerzen behaftet ( 1). Besonders häufig sind dabei muskuloskelettale Schmerzen, aber auch Kopfschmerzen und neuropathische Schmerzen (Grafik 1). Schmerz erhöht wiederum das Risiko für Gebrechlichkeit und Hospitalisierung sowie den Pflegebedarf und die Mortalität.
Die schmerztherapeutische Versorgung betagter Menschen ist jedoch unzureichend systematisch untersucht. Die wenigen Studien, die es bislang dazu gibt, deuten auf eine eklatante Unterversorgung hin: so beispielsweise die vom GKV-Spitzenverband geförderte und von Forschenden der Charité durchgeführte Querschnittsuntersuchung ACHE (PAin Management in Older Adults ReCeiving Home CarE) ( 2). An der Berliner Studie nahmen 355 über ambulante Pflegedienste rekrutierte pflegebedürftige Personen mit chronischen Schmerzen teil. Das Durchschnittsalter der Teilnehmenden lag bei 82 Jahren. 255 davon waren auskunftsfähig und wurden mithilfe des Fragebogens Brief Pain Inventory (BPI) zu ihrer Schmerzsymptomatik befragt. Die durchschnittliche in den letzten 24 Stunden von den Betroffenen erlebte Schmerzintensität betrug in dieser Subgruppe 5,3 (Standardabweichung [SD] ± 2,0) auf der numerischen Ratingskala (NRS; Bereich 0-10). Die stärkste in den letzten 24 Stunden wahrgenommene Schmerzintensität lag bei 7,0 (SD ± 2,0). Nur ein Viertel der Schmerzbetroffenen erreichte unter der Behandlung eine mehr als 70%ige Schmerzreduktion.
Schmerztherapie reicht oft nicht aus
Auch in stationären Pflegeeinrichtungen scheint die schmerztherapeutische Versorgung dem Bedarf nicht gerecht zu werden. Die europäische Querschnittsstudie SHELTER zeigte, dass ein Drittel der deutschen und ein Viertel der europäischen Pflegeheimbewohner und -bewohnerinnen mit mittelstarken bis starken Schmerzen keine Medikamente oder nur eine Bedarfsmedikation erhielten ( 3). Nur etwa 5 % erreichten die in internationalen Leitlinien empfohlenen Therapieintensitäten und nur 47 % erhielten eine nichtmedikamentöse Therapie.
Die Gründe für schmerztherapeutische Versorgungsdefizite bei älteren Menschen sind vielfältig. Eine Verbesserung der Situation ist nur möglich, wenn die an der Schmerzdiagnostik und -behandlung Beteiligten sich gut untereinander abstimmen und dabei eine Reihe altersbezogener Besonderheiten beachten. Unverzichtbar für eine adäquate Schmerzbehandlung sind beispielsweise die Berücksichtigung von:
Als Leitschnur für eine fachgerechte schmerztherapeutische Versorgung betagter Menschen, die dem stetig wachsenden Bedarf gerecht werden soll, entsteht derzeit unter der Federführung der Deutschen Schmerzgesellschaft und unter Beteiligung 33 weiterer Fachgesellschaften und Organisationen die S3-Leitlinie GeriPAIN und damit die erste deutschsprachige sektorenübergreifende Leitlinie zur Schmerzbehandlung im Alter ( 4).
Der Leitlinienprozess hat die Phase der Literatursuche und -bewertung bereits durchlaufen, und die Leitliniengruppe erarbeitet daraus nun nach und nach konsentierte Empfehlungen. Einige wurden am 17. Oktober 2024 auf dem Deutschen Schmerzkongress bereits vorgestellt und diskutiert. Eine vollständige Konsultationsfassung der GeriPAIN-Leitlinie wird ab Ende 2024 auf der Homepage der Deutschen Schmerzgesellschaft verfügbar sein. Die Fertigstellung der Leitlinie ist für Anfang 2025 geplant.
Prof. Dr. rer. medic. Erika Sirsch, MScN, RN, Professorin für Pflegewissenschaft mit Schwerpunkt Interprofessionalität, Institut für Didaktik in der Medizin Universität Duisburg-Essen und eine Leitlinienautorin, erklärte, man habe die 2017 erstellte und 2022 abgelaufene S3-Leitlinie "Schmerzassessment bei älteren Menschen in der vollstationären Altenhilfe" als Basis verwendet und Empfehlungen daraus aktualisiert ( 5). "Ziel dabei ist es, die Empfehlungen sektorenübergreifend und - wo möglich - evidenzbasiert zu formulieren", erläuterte die Expertin. Parallel zur Konsentierung der Empfehlungen werden, soweit dies auf Basis der Literatur möglich ist, Qualitätsindikatoren erarbeitet und mit den starken Empfehlungen der Leitlinie abgeglichen.
Herausforderung Demenz
"Eine erfolgreiche Schmerzbehandlung beginnt mit dem Screening und Assessment von Schmerzen", betonte Sirsch. Beim Screening gehe es zunächst einfach darum, zu erkennen, ob die betreffende Person Schmerzen hat. Das sei bei geriatrischen Patientinnen und Patienten keine Selbstverständlichkeit, beispielsweise wenn diese eine Demenz oder eine Bewusstseinsstörung hätten. Ein positiver Screeningbefund liege daher nicht nur bei erkannten, sondern auch bei vermuteten Schmerzen vor. Darauf folge dann das Schmerzassessment, das heißt, die Erfassung und Beschreibung möglicher Schmerzzeichen und -äußerungen sowie weitere Informationen zum Vorliegen von Schmerz. "Mögliche oder vorhandene Schmerzen werden dabei entsprechend des biopsychosozialen Modells erfasst", erklärte die Expertin. Das Schmerzassessment diene allen Beteiligten als Grundlage für Diagnosestellung und Interventionsplanung.
Interdisziplinär entscheiden
Sirsch stellte 7 bereits in der Leitliniengruppe konsentierte Empfehlungen vor, die mit dem stärksten Empfehlungsgrad, also als "Soll-Empfehlung" belegt wurden, und zudem 4 "Sollte-Empfehlungen" (Kasten GeriPAIN-Leitlinienentwurf). Bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen sei es unter anderem wichtig, ergänzend zur Selbst- auch eine Fremdeinschätzung einzuholen, egal, ob die betroffene Person im Pflegeheim untersucht werde oder in der Notaufnahme eines Krankenhauses eintreffe. "Auch wenn die 11-Punkte-NRS Standard zur Evaluation der Schmerzintensität ist: Viele geriatrische Patient:innen kommen damit nicht zurecht, und manche geben dann eine Antwort, die nicht der wirklich von ihnen empfundenen Schmerzintensität entspricht", warnte Sirsch. Der Gebrauch einer verständlichen Sprache gegebenenfalls mit Begriffen, die die betroffene Person selbst verwendet, etwa "Aua" oder "Weh", sei dann oft zielführend. Allerdings solle man dabei weiterhin in einem respektvollen Ton sprechen und nicht in eine "Babysprache" verfallen.
Die schmerztherapeutische Versorgung geriatrischer Patientinnen und Patienten erfordert Dr. med. Corinna Drebenstedt, Chefärztin Geriatrie und Innere Medizin, St. Marienstift Friesoythe, Sprecherin des "Arbeitskreises Schmerz und Alter" der Deutschen Schmerzgesellschaft und Leitlinienautorin, zufolge eine enge Zusammenarbeit und klare Kommunikation unter den beteiligten Professionen, das heißt, Ärztinnen und Ärzten, Pflegenden, Apothekerinnen und Apothekern sowie weiteren Therapeutinnen und Therapeuten, etwa im Bereich der Physio-, Ergo- oder Psychotherapie. Daher habe die Leitliniengruppe einen eigenen Themenkomplex "Gemeinsame Entscheidungsfindung und die Aufrechterhaltung der Versorgungskontinuität" definiert und anhand der verfügbaren Datenlage Vorschläge zu entsprechenden Empfehlungen erarbeitet. Die Literaturrecherche führte zu 3 Übersichtsarbeiten ( 7, 8, 9). Eine davon analysierte mit einem gemischt qualitativen und quantitativen Ansatz 55 Primärstudien, die sich damit befassten, mit welchen Herausforderungen die pflegenden Familienangehörigen von schwer - meist an Krebs - erkrankten Personen konfrontiert sind ( 7). Die Studie identifizierte 4 Kategorien häufiger Herausforderungen (Kasten "Vier Problemfelder").
Krankheiten verarbeiten
Ein Review evaluierte anhand von 17 qualitativen Primärstudien die Krankheitsverarbeitungsstrategien älterer Menschen mit chronischen Schmerzen ( 8). Es wurden dabei 3 Hauptkategorien von Strategien identifiziert, mit der eigenen Schmerzerkrankung umzugehen. Die Verlässlichkeit der Beweislage (Confidence in the Evidence) hinsichtlich der Bedeutung der identifizierten Strategie wurde dabei jeweils unterschiedlich hoch eingeschätzt:
1. "Ich stelle mich auf das Unvermeidbare ein." (moderate Verlässlichkeit der Beweislage)
2. "Ich vermeide Medikamente und bewältige die Krankheit auf meine eigene Weise." (hohe Verlässlichkeit der Beweislage)
3. "Es ist wichtig, dass ich bei der Bewältigung Unterstützung erhalte." (moderate Verlässlichkeit der Beweislage)
Eine weitere qualitative Übersichtsarbeit schloss 33 Primärstudien zum Schmerzmanagement bei Demenz ein ( 9). Diese zeigte unter anderem, welch großen Einfluss Ängste vor Arzneimittelnebenwirkungen auf die Versorgung von Demenzbetroffenen mit Schmerzmitteln haben. Solche Ängste spielen dem Review zufolge nicht nur bei Familienangehörigen eine Rolle, sondern auch beim pflegerischen und ärztlichen Personal. Edukation und Kommunikation erwiesen sich als Faktoren, die dazu beitragen können, solche Befürchtungen zu überwinden.
Mehr Studien notwendig
Drebenstedt wies darauf hin, dass die Aussagekraft der bislang zu diesem Themenkomplex verfügbaren Studien sehr eingeschränkt sei und es dringend weiterer Forschung dazu bedürfe. Gleichwohl deuten die bisherigen Studien laut Leitliniengruppe darauf hin, dass nicht ausreichendes Wissen und fehlende Kommunikation die Qualität der schmerztherapeutischen Versorgung Älterer erheblich beeinträchtigen können.
Die Leitliniengruppe hat zu diesem Themenkomplex erste Empfehlungen erarbeitet, deren Konsentierung bei Redaktionsschluss noch ausstand:
Die Leitliniengruppe schlägt zudem im Interesse der Versorgungskontinuität vor, dass alle Gesundheitsprofis, die an der Versorgung geriatrischer Patientinnen und Patienten beteiligt sind, regelmäßige Schulungen zum Schmerzmanagement erhalten sollen (LoE 2).
Kontrovers ist, ob und wenn ja, in welchem Rahmen ein Medikamentenreview sinnvoll ist, das heißt eine Überprüfung der aktuellen Medikation, unter anderem hinsichtlich möglicher Wechselwirkungen, Kontraindikationen oder rational nicht zu begründender Verordnungen. Seit Juni 2022 dürfen Apotheken eine "erweiterte Medikationsberatung bei Polymedikation" als einmal jährliche, mit 90 Euro vergütete Kassenleistung anbieten. Zum einen wird diese Leistung bislang wenig genutzt, zum anderen dürfe man, so Drebenstedt, die Patientinnen und Patienten nicht überfordern, indem man ihnen ohne nähere Erläuterung einen Zettel mit einer Vielzahl von Warnungen in die Hand drücke und sie mit diesen Informationen alleine lasse.
Medikamente überprüfen
Die Leitlinienkommission schlägt nun auf Basis der aktuellen Datenlage und einem LoE 2 eine mittelstarke - ebenfalls noch nicht konsentierte - Empfehlung pro Medikamentenreviews vor: "Ein Medikamentenreview zwischen der/dem verschreibenden Ärztin/Arzt und weiteren Professionen oder Disziplinen sollten durchgeführt werden, um die Angemessenheit der medikamentösen Intervention zu prüfen." Dr. med. Stephan Fuchs, Hausarzt in Könnern, Sachsen-Anhalt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Allgemeinmedizin der Universität Halle-Wittenberg, der als Mandatsträger der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) an GeriPAIN mitarbeitet, vertritt die Meinung, das Medikamentenreview gehöre federführend in die Hand des Hausarztes oder der Hausärztin. Um zu gewährleisten, dass die Maßnahme auch in der Praxis umgesetzt werde, müsse man aber zunächst einmal für eine angemessene Vergütung einer solchen hausärztlichen Leistung sorgen.
Um Interventionen gut aufeinander abzustimmen, ist nach Drebenstedts Einschätzung eine koordinierende Instanz notwendig. Das müsse nicht zwingend der Hausarzt oder die Hausärztin sein. Das könne beispielsweise auch die begleitende Pflegefachperson sein oder der Physiotherapeut, wenn diese schmerztherapeutisch ausreichend kompetent seien.
"Im Bereich der medikamentösen Schmerztherapie geriatrischer Patienten fehlt es an qualitativ hochwertigen Publikationen," sagte Fuchs. Ein Grundproblem sei, dass geriatrische Patientinnen und Patienten mit kognitiven Beeinträchtigungen regelhaft aus kontrollierten Studien ausgeschlossen werden. Letztlich sei es schwierig, aus der Literatur und den einschlägigen Quellleitlinien konkrete Empfehlungen für ältere Menschen abzuleiten. Die Leitliniengruppe erwägt beispielsweise noch, ob man auf Basis der Literatur eine bevorzugte Verwendung von Paracetamol empfehlen soll oder ob man den Grundsatz "start low, go slow" als besonders wichtig in der medikamentösen Therapie älterer Menschen kennzeichnet. "Wenn wir mit den Patienten gut kommunizieren, spart das eine Menge Medikamente ein, wie Benzodiazepine oder Opiate", ergänzte Fuchs. Im Bereich der nichtmedikamentösen Schmerzbehandlung sei die Wirksamkeit für körperliche Aktivität in einem eingegrenzten Indikationsgebiet, unter anderem bei muskuloskelettalen Schmerzen, am besten belegt (Grafik 2). Für einige Verfahren, etwa für musikbasierte Interventionen, gäbe es zwar ganz passable Wirksamkeitsbelege, es fehle aber an den entsprechenden Angeboten für ältere Schmerzpatientinnen und -patienten. ■
* nach Oxford Centre for Evidence-Based Medicine 2011 Levels of Evidence ( 10), Bereich von LoE 1 (sehr gut durch kontrollierte Studien belegt) bis 5 (mechanismusbasiert)
GeriPAIN-Leitlinienentwurf
Erste konsentierte Empfehlungen zu Screening, Assessment und Diagnostik
Soll-Empfehlungen (stärkster Empfehlungsgrad)
Sollte-Empfehlungen (mittelstarker Empfehlungsgrad)
Mod. nach ( 6)
Vier Problemfelder
1. Probleme seitens der pflegenden Angehörigen, unter anderem:
2. Begrenztes Wissen der pflegenden Angehörigen, zum Beispiel über:
3. Herausforderungen in der Kommunikation mit Gesundheitsprofis, zum Beispiel:
4. Probleme seitens der pflegebedürftigen Person
Mod. nach ( 7)