Schwäbische Zeitung, Ravensburg/Weingarten vom 14.08.2024 (Tageszeitung / täglich außer Sonntag, Ravensburg)
Rubrik im PS: | Geisteswissenschaften / Gesellschaftswissenschaften / Politikwissenschaften / Bildungswissenschaften |
Autor: | Erich Nyffenegger |
Auflage: | 18.529 |
Reichweite: | 40.208 |
Ressort: | sdrei |
Seitentitel: | sdrei |
Wissenschaft zum Weltuntergang
Seit 2021 gibt es in Heidelberg Deutschlands einzige Forschungsstelle für apokalyptische Studien. Wie nah ist uns heute das Weltenende? Und: Was kommt eigentlich danach?
Heidelberg"Da sah ich ein fahles Pferd. Und der, der auf ihm saß, heißt der Tod. Und die Unterwelt zog hinter ihm her. Und ihnen wurde die Macht gegeben über ein Viertel der Erde. Macht, zu töten durch Schwert, Hunger und Tod und durch die Tiere der Erde."
Es sind schauerliche Worte, die da in der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament stehen und von Verderben und Chaos weissagen. Als sie geschrieben wurden, war bereits eine Reihe von Welten untergegangen. Alte Kulturen, über die es kaum Aufzeichnungen mehr gibt und solche, die gut dokumentiert sind. Etwa die Reiche der Pharaonen in Ägypten oder später das untergegangene Rom. Apokalypse geht aber auch eine Nummer kleiner, wenn eine persönliche Tragödie das eigenen Leben an einen Punkt führt, wo es nicht mehr so weiter geht wie bisher. Wenn etwas zu Ende ist – und an seine Stelle etwas Neues treten muss.
Apokalyptische Vorstellungen gehören zum Dunkelsten, was der menschliche Geist sich ausmalen kann. Und im Augenblick spüren viele Menschen im Angesicht multipler Krisen ein düsteres Unbehagen. Umso kontrastreicher wirken die überaus hellen Räume des "Käte Hamburger Kollegs" in Heidelberg, wo sich Wissenschaftler mit apokalyptischen und postapokalyptischen Studien befassen: weiße Wände, weißes Mobiliar, weißes Licht. Alles strahlt. Das Gegenteil von Chaos und Verderben. Eher: Sachlichkeit mit einem Hauch Zuversicht. Das jedenfalls ist im frischen Gesicht von Anaïs Maurer zu lesen, der man nicht im Entferntesten ansieht, woran sie in Heidelberg forscht. Nämlich an einer Apokalypse, die nicht irgendein abstraktes Geschehen in irgendwelchen alten Büchern von anno dazumal ist, sondern die Realität des Jahres 2024.
Auf der Landkarte muss der Finger von Europa aus betrachtet lange wandern, bis er schließlich irgendwo mittig zwischen Australien und Südamerika hängen bleibt. Dort in Französisch-Polynesien ist Anaïs Maurer aufgewachsen, nachdem sie in Paris geboren wurde. "Die Menschen dort erleben gerade ihre dritte Apokalypse", sagt sie. Zuerst das Fanal der Kolonialisierung durch die Franzosen. Dann bis spät in die 1990er-Jahre hinein Atomtests verschiedener Staaten, von denen Maurer sagt, dass die Anzahl der gezündeten Sprengköpfe einem halben Jahrhundert entspricht, an dessen jedem einzelnen Tag eine Bombe mit der Zerstörungskraft von Hiroshima detoniert. Mit grauenhaften Folgen für Natur und Mensch, die bis heute über Generationen hinweg an all den Schrecken und Krankheiten leiden, die im Gefolge radioaktiver Verseuchung auftreten. "Und jetzt müssen die Menschen mitansehen, wie ihre Heimat im Meer versinkt", sagt Anaïs Maurer und benennt damit die dritte Apokalypse, die infolge des Klimawandels der gestiegene Meeresspiegel für den Südpazifik bedeutet.
In ihren Forschungen befasst sich Maurer damit, wie die Bevölkerung diese apokalyptischen Erfahrungen verarbeitet. Etwa in der Malerei, der Musik oder Literatur. Vor allem aber, wie sich eine solche Gesellschaft im Anbetracht ihres Schmerzes solidarisiert, eine besondere Widerstandsfähigkeit kultiviert und gemeinsam für den Erhalt und Wiederaufbau kämpft, statt nur fliehen zu wollen. Ihr besonders Anliegen: "Die Welt muss verstehen, dass das, was im Südpazifik passiert, alle Menschen angeht." Auch das ist Gegenstand ihrer Arbeit in Heidelberg, die sie noch bis Dezember im Rahmen eines Gaststipendiums, eines sogenannten Fellowships, am Kolleg hält.
Mit apokalyptischen Fantasien beschäftigen sich auch Literatur und Popkultur. Dieses Comic in der Vitrine des Käte Hamburger Kollegs beschäftigt sich mit dem Kampf zwischen Mensch und Monster.
Adam Stock, ein schlaksiger Mann mit hellbraunen Locken und einem spitzbübischen Lächeln, der ursprünglich aus Nordengland stammt, ist ebenfalls Fellow am "Käte Hamburger Kolleg". Mit ihm, der sonst Vorlesungen an der St. John Universität in York hält, bekommt das Thema Apokalypse einen literaturwissenschaftlichen Anstrich. Die Leidenschaft des 40-Jährigen verbindet sich in seiner Faszination für Science-Fiction und Wüsten. "In apokalyptischen Vorstellungen spielen Wüsten oft eine große Rolle", sagt Stock und erinnert daran, dass es in vielen Geschichten die Wüste ist, die schließlich übrigbleibt, wenn alles andere verschwunden ist.
Die postapokalyptischen Forschungen von Stock machen deutlich, wie endzeitliche Ängste die Fantasie von Autoren aller Jahrhunderte beflügelt haben und noch immer beflügeln. Der 40 Jahre alte Geisteswissenschaftler konzentriert sich bei seinen Studien auf Schriftsteller aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und Stock stellt die Verbindung zwischen dystopischen Fiktionen – wie sie etwa in Orwells Roman "1984" oder Franz Kafkas "Der Prozess" erzählt werden – in einen Zusammenhang mit politischem Denken. Und wie sich diese wechselseitigen Welten in der Realität treffen.
"Ich hatte ja überhaupt keine Ahnung, wie viele Aspekte die Forschung an Apokalypsen betreffen würde", sagt Robert Folger, der als Historik-Professor die Idee zur Einrichtung der Forschungsstelle hatte. Was er in den Jahren vor der Gründung des "Käte Hamburger Kollegs" freilich auch nicht auf dem Zettel hatte, war die Corona-Pandemie und die damit verbundene endzeitliche Stimmung, die sich in Teilen der Bevölkerung breitmachte. "Covid hat uns insofern ausgebremst, weil die Idee des Instituts ja ist, dass die Leute verschiedener Fachrichtungen zusammenarbeiten. Und sich dann halt auch dialogisch verständigen, also zusammensitzen." Das sei unter Corona-Bedingungen schwierig bis nicht möglich gewesen. Andererseits habe die Pandemie dem Thema Apokalypsen Aktualität und Relevanz verliehen. "Die Folge waren viele Presseanfragen und es entstand die Vorstellung, dass das Kolleg wegen der Pandemie gegründet worden sei, was aber nicht zutrifft."
Am Kolleg sind inzwischen 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fest beschäftigt. Dazu kommen jährlich bis zu 20 Fellows aus aller Welt, die zwischen sechs und zwölf Monaten bleiben. Die Zahl der Bewerber übersteigt die zur Verfügung stehenden Plätze dabei etwa um das Dreifache.
"Was die Apokalypsen angeht, sind es sozusagen drei Säulen, die aktuell im Fokus stehen" erklärt Folger: die Herausforderungen durch die Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI), die Bedrohung durch den Klimawandel und die Angst vor nuklearer Vernichtung im Rahmen atomarer Katastrophen oder Kriegen.
Robert Folger, Historik-Professor, leitet Deutschlands einzige Forschungsstelle für apokalyptische Studien, das Käte Hamburger Kolleg in Heidelberg.
Die verschiedenen Facetten solcher apokalyptischer und postapokalyptischer Ängste spiegeln sich auch in einer gläsernen Vitrine im großen Flur des Kollegs. Sie ist bestückt mit Sammelobjekten zum Thema Apokalypse. Da liegen Comics, in denen gegen übermächtige Monster gekämpft wird, die die Weltherrschaft an sich zu reißen drohen. An den Wänden hängen Bilder des mexikanischen Künstlers Mural Saner mit postapokalyptischen Szenen. Die dominierende Farbe ist rot. Damit lehnen sie sich eng an die Vorstellung der biblischen Apokalypse an, wie sie in der Offenbarung des Johannes den Begriff über Jahrtausende hinweg prägt und wo die Farbe im Kontext des reinigenden Feuers steht.
Folger beschäftigt sich bereits seit Längerem mit den Auswirkungen und möglichen Gefahren von KI. "Man muss sich nur mal im kulturellen Bereich umschauen, da wird das Thema schon lange aufgegriffen. Man muss da nur an den Terminator denken." Aus Sicht von Robert Folger sind solche Szenarien, wie in dem Film mit Arnold Schwarzenegger gezeigt, mehr als bloße Unterhaltung. Sie rührten an Ängsten, die nicht neu seien. Durch den starken Fokus im Rahmen der Digitalisierung unseres Lebens aber jetzt viel stärker im Bewusstsein ankämen.
Was setzen wir damit in Gang, wenn wir Maschinen nicht mehr selbst konstruieren, sondern sie durch andere Maschinen konstruieren lassen? "Das sind Bedrohungen, die vielleicht nicht gleich die ganze Menschheit auslöschen können", sagt Folger. "Aber wenn einmal die Programme die Programme schreiben, werden wir abgehängt." Davon ist der Professor überzeugt, schränkt aber ein: "Ich glaube, dass in dieses Thema im Moment viel hinein projiziert wird." Von vielen Szenarien sei die Menschheit noch "sehr weit" entfernt.
Die geisteswissenschaftliche Arbeit am "Käte Hamburger Kolleg" ist aufgrund der komplizierten Zusammenhänge, denen sie nachforscht, nicht leicht zu greifen. Auch der Wissenstransfer in die Alltagswelt gestaltet sich nicht so einfach wie bei technischen Forschungen, deren praktische Anwendungen vielleicht irgendwann in Supermarktregalen zu finden sind. Darum gehen die Menschen des Instituts mit Veranstaltungen bewusst in die Welt außerhalb der wissenschaftlichen Blase. Mit Workshops, Vorträgen, kommentierten Filmreihen. Robert Folger sieht das Kolleg aber auch als eine Vermittlungsinstanz zwischen den Naturwissenschaften, um dabei zu helfen, mit kultur- und sozialwissenschaftlichen Mitteln die harten Erkenntnisse etwa der Physik im Bewusstsein von Politik und Wirtschaft zu verankern.
"Apokalypse ist etwas, das einerseits passiert – andererseits ist es ein Erklärungsmuster" sagt Folger. Und: "Klimakatastrophe oder Künstliche Intelligenz – das ist derart hochkomplex, dass auch Wissenschaftler im Grunde genommen das nicht mehr mit normalen Begriffen bewältigen können." Ein Teil der Mission in Heidelberg ist es, im übertragenden Sinne dafür eine Basis oder Sprache zu finden, die alle Fachrichtungen interdisziplinär zusammenbringen kann.
Anaïs Maurer wuchs im Südpazifik auf. Sie sagt, die Menschen dort erleben gerade ihre dritte Apokalypse.
Wenn eine Welt zu Ende geht, beginnt wieder eine neue.
Auf die Frage, ob die Beschäftigung mit derart angstbesetzten Themen die Leute am Kolleg – den Professor inbegriffen – irgendwann depressiv machen muss, lacht Folger kurz auf und schüttelt den Kopf. "Apokalypse meint ja nicht unbedingt das Ende von allem und jeden Lebens, wie in der christlich-jüdischen Vorstellung." Das sei eine Spezialität der Bibel. "Eines dürfen wir nicht vergessen: Wenn eine Welt zu Ende geht, beginnt wieder eine neue."
Das ist es auch, was ihn persönlich an unserer Zeit nicht verzweifeln lasse. Fraglos lebe man in einer Ära der Umbrüche. "Aber jede Zeit hatte ihre apokalyptischen Vorstellungen." Was dabei herauskommt, ist aber noch längst nicht abgemacht. Der Professor gibt unumwunden zu, dass im Augenblick gerade eine gute Zeit ist für apokalyptische Studien. Das Thema habe Konjunktur. Und damit geht den Wissenschaftlern am "Käte Hamburger Kollegs" in Heidelberg der Forschungsstoff nicht so schnell aus. Leider.