Rubrik im PS: | Wirtschaftswissenschaften |
Autor: | Thomas Schickling |
Auflage: | 92.776 |
Reichweite: | 567.053 |
Quellrubrik: | money service |
GKV-FINANZKRAFT
Leere Taschen
Allein im ersten Quartal 2024 musste die gesetzliche Krankenversicherung angesichts steigender Ausgaben insgesamt ein Minus von 776 Millionen Euro verkraften. Welche Kassen – trotz finanziell angespannter Lage – dennoch wirtschaftlich recht gut dastehen
FAST PLEITE: Angesichts knapper Kassen rechnet die DAK-Gesundheit im Jahr 2025 mit einem Anstieg des durchschnittlichen Zusatzbeitrags auf 2,3 Prozent
Illustration: Adobe Stock
Die Message war sehr deutlich: Ohne politisches Handeln drohen kurz- und mittelfristig massive Beitragssteigerungen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Diese Warnung sprach das Gros der Entscheidungsträger der Krankenkassen hierzulande im Rahmen des alljährlichen Hauptstadtkongresses in Berlin, des wohl bedeutendsten Kongressereignisses für Gesundheitswirtschaft und -politik hierzulande, schon Ende Juni einhellig aus.
Auf dem Event hatte der renommierte Gesundheitsökonom Jürgen Wasem zudem eindringlich auf ein steigendes "primäres Defizit" in der GKV hingewiesen. Selbst bei einer eher konservativen Rechnung müssten im Jahr 2027 rund 50 Milliarden Euro über Zusatzbeiträge finanziert werden, prognostizierte der Professor von der Uni Duisburg-Essen.
Das liefe unterm Strich rechnerisch auf einen Zusatzbeitrag von 2,5 Prozent hinaus. Skeptisch zeigte sich Wasem im Hinblick auf Hilfe durch die Regierung. Keine "sicheren Perspektiven" zu einer stabilen GKV-Finanzierung biete das Papier des Bundesgesundheitsministeriums (BMG).
Auch Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit, ist nicht zuversichtlich. Insbesondere die nächsten zehn Jahre würden aufgrund des demografischen Wandels herausfordernd. Lasse man die Finanzentwicklung ohne Stabilisierungsmaßnahmen weiterlaufen, werde der GKV-Beitrag im Jahr 2035 bei insgesamt 19,3 Prozent liegen.
40-Prozent-Deckel recht utopisch. Kritisch kommentierte Storm außerdem die künftige Entwicklung der Sozialabgaben in Deutschland: Klar sei leider schon jetzt, dass diese – entgegen politischen Vorgaben – realistisch nicht auf insgesamt 40 Prozent gedeckelt werden könnten. Verhindern müsse man aber, so Storm, dass die Gesamtleistung in den kommenden zehn Jahren Richtung 50 Prozent klettere. Zumal dies Versicherte und Arbeitgeber finanziell überfordere.
Eine größere Reform der GKV-Finanzierung werde es, meint Storm, wohl erst "unmittelbar nach der Bundestagswahl 2025" geben. Versetze man künftig die GKV in die Lage, Einnahmen und Ausgaben wieder in Balance zu bringen, könne man die Beiträge dann bei etwa 16 Prozent halten.
Da aber schon heute die Rücklagen von AOK &Co. "wie Eis in der Sonne schmelzen", gelte es, sich bereits jetzt gegen weitere Ausgabensteigerungen zu wehren. Branchenkenner Storm verweist in diesem Kontext etwa auf die geplante Krankenhausreform und die vorgesehene Finanzierung des Transformationsfonds in Milliardenhöhe durch die GKV.
Ein rechtliches Gutachten der Krankenkassen zur Frage der geplanten Ausgestaltung des Transformationsfonds zeige klar, dass dies eine Zweckentfremdung von GKV-Beitragsmitteln und somit verfassungsrechtlich problematisch wäre. Zur selben Einschätzung sei auch der Bundesrechnungshof in einer gutachterlichen Stellungnahme gekommen.
Sorgen macht AOK & Co. auch die Ausgabenentwicklung für patentgeschützte Medikamente. Diese sind, trotz des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes, gestiegen. Zu diesem Ergebnis kommt der neue AMNOG (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz) -Report von Wissenschaftlern der Universität Bielefeld und von Vandage im Auftrag der DAK-Gesundheit.
Preissteigerungen um 18 Prozent. Dem Report zufolge erhöhten sich die Aufwendungen für patentgeschützte Arzneimittel in den Monaten Februar bis April 2024 gegenüber dem gleichen Zeitraum 2023 augenscheinlich um 18 Prozent auf durchschnittlich 2,54 Milliarden Euro pro Monat. Wobei patentgeschützte Medikamente bei den Kassen rund 50 Prozent der Gesamtausgaben für Arzneimittel ausmachen.
"Es hat noch keine Legislaturperiode mit einer solchen Ausgabensteigerung gegeben", erklärt DAK-Chefstratege Storm. Vor diesem Hintergrund prognostiziere die DAK-Gesundheit für das Jahr 2025 einen Anstieg des durchschnittlichen Zusatzbeitrags von jetzt 1,7 auf 2,3 Prozent.
Mehr als jeden sechsten Euro gibt die GKV mittlerweile für Arzneimittel aus. Trotz des erhöhten Herstellerabschlags bilden damit Medikamente mit 17,38 Prozent den zweitgrößten Kostenblock der Gesamtausgaben der Krankenkassen, noch vor den vertragsärztlichen Behandlungen mit 16,33 Prozent. Die unkalkulierbare Ausgabendynamik bezeichnet DAK-Boss Storm denn wohl zu Recht als "enorme Herausforderung" für die Finanzstabilität der GKV.
Unerwartet hohe Kostensteigerungen im Krankenhaus-und Medikamentensektor haben bereits zwischen April und Juli insgesamt 16 Krankenkassen in Deutschland dazu bewogen, unterjährig ihren Zusatzbeitrag um 0,39 bis 1,50 Prozentpunkte zu lupfen. Seit 1. August 2024 müssen zudem etwa Mitglieder der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) sogar einen deutlich höheren Zusatzbeitrag von 3,28 Prozent berappen – das sind immerhin 1,3 Prozentpunkte mehr als zuvor. Damit gehört die bundesweit geöffnete Kasse nunmehr zu den teuersten hierzulande.
Auch bei der Knappschaft und der mkk – meine krankenkasse schoss der Zusatzbeitrag zum 1. August um 0,50 respektive 0,70 Prozentpunkte in die Höhe. Und die IKK classic musste angesichts angespannter Finanzlage ihren Zusatzbeitrag zum 1. August um 0,49 Prozentpunkte auf 2,19 Prozent erhöhen. Die Entscheidung habe man sich "nicht leicht gemacht", betonte Vorsitzender Helmut Dittke. Sie sei aber nötig gewesen, um den Rahmen für eine solide Finanzplanung zu schaffen und "weiterhin die gewohnten Leistungen anbieten zu können".
Kassen bluten. Generell sieht die wirtschaftliche Entwicklung der GKV nicht gerade rosig aus. Die 95 gesetzlichen Kassen verbuchten im ersten Quartal des Jahres 2024 ein Defizit von insgesamt 776 Millionen Euro. "Auch wenn die Finanzdaten für das erste Quartal mit Blick auf die Gesamtjahresentwicklung noch mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten sind, müssen wir diese Entwicklung ernst nehmen", warnte jüngst Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. Einzig die Knappschaft erzielte im ersten Quartal einen Überschuss von 23 Millionen Euro.
Wer gerade mit einem Kassenwechsel liebäugelt – und darauf spekuliert, künftig unterjährig doch keine höheren Zusatzbeiträge löhnen zu müssen –, sollte neben der Liquidität und dem Nettovermögen auch mal einen genaueren Blick auf die Verwaltungskosten sowie die Entwicklung zahlender Mitglieder seiner künftigen Wunsch-Krankenkasse werfen.
Doch wie an solch sensible und damit geheime Zahlen kommen? Wie es um die wirtschaftliche Situation einer gesetzlichen Krankenkasse bestellt ist – das attestiert der neue Finanzstärke-Test der Fachleute des Deutschen Finanz-Service Instituts (DFSI) in Köln. Dazu durchforstete das DFSI-Team die Daten von insgesamt 45 Krankenkassen (s. Methode Seite 72). "Siebenmal konnten wir in unserer Untersuchung einer gesetzlichen Krankenkasse die Bestnote ‚Hervorragend‘ attestieren", bilanziert Thomas Lemke, DFSI-Geschäftsführer. Und sieben Krankenkassen erhielten immerhin noch ein "Sehr Gut" (s. Tabelle Seite 70/71).
Bund duckt sich weiter weg. Um den steigenden Finanzdruck innerhalb der GKV zumindest etwas zu mildern, fordert der GKV-Spitzenverband schon lange Änderungen bei der gesundheitlichen Versorgung von Bürgergeldempfängern. "Hier kommt der Bund seinen Ausgleichsverpflichtungen gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung nicht annähernd nach", moniert Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbands. Mit den vom Bund an die Krankenkassen gezahlten Beiträgen werde nur gut ein Drittel der tatsächlichen Ausgaben für diesen Personenkreis gedeckt. Bei diesen Zahlen beruft sich Fachfrau Pfeiffer auf ein aktuelles Gutachten des IGES Instituts in Berlin.
Die Ausgaben der GKV für Bürgergeldbeziehende lagen 2022 laut IGES-Forschern insgesamt um 9,2 Milliarden Euro höher als die für diese Gruppe gezahlten Beiträge. "Durch diese systematische Unterfinanzierung gehen der GKV jedes Jahr Milliardenbeträge verloren", betont Pfeiffer. Für gesetzlich versicherte Bürgergeldempfänger zahlte der Bund 2022 den Kassen eine Monatspauschale von 108,48 Euro. "Eine kostendeckende Pauschale aber hätte bei 311,45 Euro liegen müssen", verrät Richard Ottmann, Projektleiter Gesundheitspolitik am IGES Institut. Zum Vergleich: Für privat krankenversicherte Bürgergeldbezieher hingegen zahlte der Staat aus Steuermitteln je Versicherten einen Zuschuss von bis zu 421,77 Euro pro Monat. Schon eine ungerechte Bevorzugung Privatversicherter gegenüber Kassenpatienten!
Quellen Tabelle: DFSI, Angaben der Krankenkassen; Ranking: Kassen alphabetisch sortiert; abgebildet sind in der Tabelle lediglich die Testergebnisse "Hervorragend", "Sehr Gut" und "Gut", weitere Ergebnisse finden sich im Internet unter http://www.dfsi-institut.de/studien;1)nachrichtlich, nicht bewertet;2)3)Faktor, um den Barmittel, Giroguthaben, kurzfristige Anlagen, andere Guthaben und einmalige Sondereffekte zur Vermögensabführung eine durchschnittliche Monatsausgabe übersteigen; Faktor, um den Betriebsmittel (Überschuss, Aktiva), Rücklage, Verwaltungsvermögen, Geldmittel zur Anschaffung und Erneuerung von Verwaltungsvermögen und einmalige Sondereffekte zur Vermögensabführung eine durchschnittliche Monatsausgabe übersteigen;4)Verhältnis der Summe aus den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds in Form von Abschlägen sowie Forderungen/Verpflichtungen abzüglich der zuweisungsfähigen Verwaltungskosten zur Summe der Zuweisungen in Form von Abschlägen sowie Forderungen/Verpflichtungen;5)gezeigt ist nur eine Auswahl der bewerteten Details;6)90–100 = Hervorragend, 80–89,9 = Sehr Gut, 60–79,9 = Gut, 40–59,9 = Befriedigend, 20–39,9 = Ausreichend, 0–19,9 = Mangelhaft;7) Mittelwerte für alle gesetzlichen Krankenkassen beziehungsweise Kassen, die Daten im Rahmen des Tests zur Verfügung gestellt haben