Potsdamer Neueste Nachrichten vom 14.08.2024, S. B20 (Tageszeitung / täglich außer Sonntag, Potsdam)
Rubrik im PS: | Wirtschaftswissenschaften |
Autor: | Marius Ochs |
Auflage: | 14.630 |
Reichweite: | 31.747 |
Ressort: | Wissenschaft in Berlin |
Quellrubrik: | Wissenschaft in Berlin |
"Bester Weg, Ideale zu realisieren"
Max Krahé denkt Finanzen neu
Max Krahé hat 2021 ein Ziel vieler Wirtschaftswissenschaftler erreicht: In der Financial Times veröffentlichte der junge Forscher einen vielbeachteten Meinungsartikel. Seine These zur Zukunft von Sustainable Finance: damit nachhaltige Finanzen funktionieren können, sei ein gewisser Grad an "zentraler Planung" nötig. Für die wirtschaftsliberale Zeitung eine ungewöhnliche Forderung.
Doch Krahés Überlegungen erreichten die wichtigen Leute. Kurz nach der Veröffentlichung meldete sich Noel Quinn, Vorstandsvorsitzender der Großbank HSBC, bei ihm, um zu diskutieren, wie der 36-Jährige im Videotelefonat mit Tagesspiegel Background erzählt.
16-Euro-Mindestlohn?
Dass bei Quinn der reflexartige Sozialismusvorwurf, den das Wort "Planung" auslösen kann, nicht aufkam, motivierte Krahé. "Miternsthaften inhaltlichen Vorschlägen, die von einer inneren Logik getragen sind, kann man also etwas erreichen", realisierte er in diesem Moment. Heute ist er Forschungsdirektor für Ökonomische Souveränität und Geldpolitik beim von ihm mitgegründeten Dezernat Zukunft, einer Denkfabrik aus Berlin, und mischt sich regelmäßig in die finanzpolitischen Debatten der Bundesrepublik ein.
Jetzt veröffentlicht er Analysen und Forschungsergebnisse unter anderem zur Frage, ob ein16-Euro-Mindestlohn möglich ist und wie die öffentliche Beschaffung zur Dekarbonisierung beitragen kann. Er schreibt Artikel in Zeitungen zur demokratischen Entwicklung angesichts des Klimawandels. Er spricht mit Abgeordneten aller demokratischer Parteien, regelmäßig sind hochrangige Politiker wie Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) oder Ex-Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) zu Gast beim Dezernat Zukunft.
Zu Sustainable Finance arbeitet Krahé heute aber nicht mehr. Im Zuge seiner ersten wissenschaftlichen Stelle als Postdoc forschte er 2019 an der belgischen königlichen Akademie für Wissenschaften über nachhaltige Investments. Ihn interessierte die Grundsatzfrage: Wie kann man herausfinden, ob eine konkrete Investition nachhaltig ist?
Teile seiner Forschung hat er im FT-Artikel aufgeschrieben. Die Analyse einzelner Projekte reicht demnach nicht, um eine Aussage über die Nachhaltigkeit treffen zu können – "das gesamte Ökosystem zählt." Auch die feingliedrige EU-Taxonomie kritisiert Krahé deshalb. "Man braucht konkrete Transformationspläne für ganze Sektoren", sagt er. "Für mich war klar: Entweder ich arbeite an solchen Plänen mit, oder ich wechsle den Bereich."
Er ging an das Institut für Sozioökonomie der Universität Duisburg-Essen und hatte einen neuen Themenschwerpunkt: die politische Ökonomie der Ungleichheit. Doch die Transformation beschäftigte ihn weiterhin. 2017 und 2018 traf sich Krahé gemeinsam mit Gründerin Philippa Sigl-Glöckner und anderen finanzpolitisch Interessierten am Rande von Konferenzen, um über die Idee einer Denkfabrik zu sprechen. Das Dezernat Zukunft startete als Verein und Plattform, auf der beispielsweise Mitarbeitende von Ministerien ihre Perspektiven aufschreiben konnten. 2020, parallel zu Krahés Arbeit am Institut für Sozioökonomie, startete dann das erste richtige Projekt.
Krahé, Sigl-Glöckner und die anderen Forschenden untersuchten, wie die Gesellschaft nach Coronaaussehen könnte. "Das hat niemanden interessiert, aber auch daraus haben wir gelernt", sagt er heute. Seitdem suchen sich die mittlerweile etwa 20 Mitarbeitenden konkretere Themen und Projekte aus. Am meisten arbeiteten Krahé und seine Kolleginnen an Vorschlägen für eine Verfassungsreform rund um die deutsche Schuldenbremse. Mittlerweile hat das Dezernat auch einen Industrie- und klimapolitischen Schwerpunkt.
In der Transformation wird es Krahés Meinung nach insbesondere um Haushaltsgelder gehen, um Finanzpolitik auf europäischer Ebene und um die deutsche Schuldenbremse: also um die richtige Steuerung öffentlicher Gelder.
Liberal, dann progressiv
Ein historisches Vorbild könnte die französische Indikativplanung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sein. "Die Franzosen erkannten, dass ihre Wirtschaft nicht modern genug war", sagt Krahé. Für die wichtigen Sektoren – Energie, Maschinenproduktion, Transport – wurden Kommissionen eingesetzt, die ambitionierte sektorale Pläne entwickelten, wie es im besten Falle laufen könnte. "Diese dezentralen, doch noch marktwirtschaftlichen Pläne gaben damals eine wichtige Orientierung für die Transformation."
Dass Krahé diese planerischen Gedankenspiele einbringt, ist nicht selbstverständlich. Seine Mutter war Notarin, sein Vater Jurist, ein FDP-geprägtes Umfeld, Gespräche über Politik und Geschichte gehörten schon früh zu seinem Alltag. Er wuchs in einem klassisch bürgerlichen westdeutschen Haushalt mit einem starken Glauben an die soziale Marktwirtschaft und die Ideen des Liberalismus auf.
Mit dem Fall der Mauer sah seine Familie wirklich das Ende der Geschichte gekommen. Der junge Krahé überragte in der Schule und übersprang zwei Klassen. Noch in der Schulzeit wechselte er auf ein englisches Internat, für den damaligen Harry-Potter-Fan ein aufregender Schritt.
Dieses liberale Idyll sei die "erste Stufe der Politisierung" gewesen; die zweite folgte während der Finanzkrise. Krahé studierte Politik, Wirtschaft und Philosophie in Oxford, als Banken ins Schwanken gerieten und auch Krahés politische Gesinnung. Wichtige Inspiration sei zu diesem Zeitpunkt der britische Philosoph Gerald A. Cohen gewesen.
Seine These: Der Liberalismus realisiert seine eigenen Werte nicht. "Ich bin nach wie vor liberal eingestellt, halte aber eine progressive Sozialdemokratie für den besten Weg, die Ideale zu realisieren", sagt Krahé. Die dritte Stufe der Politisierung sei dann schlicht gewesen: "Theorien sind ja schön und gut, aber es ist so viel Musik drin in der konkreten politischen Gestaltung, dass ich da auch mitmischen will."
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Finanzpolitik soll positiv wirken: Dafür setzt sich Max Krahé ein. Er bringt sich in öffentliche Debatten wie um die Schuldenbremse oder Mindestlohn ein.
Maximilian Krahé, Forschungsdirektor bei der Finanzdenkfabrik Dezernat Zukunft.
Infobox
Denkfabrik Dezernat Zukunft
Dezernat Zukunft – Institut für Makrofinanzen nennt sich eine Denkfabrik mit Sitz in Berlin, die Finanzpolitik neu denken und verständlich erklären will. Demokratie, Menschenwürde und breit verteilter Wohlstand sollen dabei zentrale Gedanken sein. Die erste Idee dazu entstand 2017/18.