Rubrik im PS: | Wettbewerber |
Auflage: | 15.795 |
Reichweite: | 36.802 |
Ressort: | Die Seite 3 |
Hoffen auf Heilung eines Zivilisationsleidens
Rheumatoide Arthritis und chronisch-entzündliche Darmerkrankungen: Bis 2030 soll jeder Zehnte in Europa betroffen sein – ein internationales Forscherteam sucht nach einem Weg, um frühzeitig vorbeugen und möglicherweise behandeln zu können
Margitta True
Schmerzende, steife und verformte Gelenke oder Fieber, Bauchschmerzen und Übelkeit: Noch gelten Rheumatoide Arthritis und chronisch-entzündliche Darmerkrankungen als unheilbar. Diese Störungen des Immunsystems zählen nicht nur zu den häufigsten chronisch-entzündlichen – "sie nehmen auch zu", sagt Professor Philip Rosenstiel, Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel.
Der Mediziner freut sich, dass fünf Jahre Forschung dazu gesichert sind. Von der EU gab es elf Millionen Euro, die Schweiz steuert weitere 2,5 Millionen Euro bei.
Rosenstiel ist wissenschaftlicher Leiter des Projekts "Personalised Disease Prediction and Prevention in Chronic Inflammatory Disorders" (PerPrev-CID), das unter der Federführung des UKSH, der Medizinischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und des Exzellenzclusters "Precision Medicine in Chronic Inflammation" (PMI) – einem schleswig-holsteinischen Forschungsverbund – steht. Durchgeführt wird es an 15 internationalen Forschungseinrichtungen in acht Ländern.
Rheumatoide Arthritis und chronisch-entzündliche Darmerkrankungen verursachen chronische Entzündungen. Diese Erkrankungen, sagt Rosenstiel, "gab es vor 150 Jahren einfach so noch nicht". Wissenschaftler gehen davon aus, dass sie sich entwickelt haben mit der Industrialisierung und der urbanen Lebensweise. Wo diese übernommen werde, kämen auch chronisch-entzündliche Erkrankungen vor, erläutert der Projektleiter.
Europäische Lebensweise
kann krank machenEin Beleg dafür sei China. Hier habe es Mitte der 50er Jahre den ersten Fall von chronisch-entzündlichen Erkrankungen gegeben, berichtet Rosenstiel, "heute sind es Millionen". Selbst Menschen, die aus anderen Ländern mit abweichendem Lebensstil kämen, "entwickeln hier nach 15 Jahren das gleiche Risiko".
Woran das liegt, wissen die Forscher nicht. Faktoren könnten die Ernährung sein, zu viel Hygiene oder die Zusammensetzung des Mikrobioms auf der Darmschleimhaut. "Die Krankheit trifft Menschen mitten im Arbeitsleben", sagt der Institutschef, oft "in einem Alter zwischen 15 und 40Jahren". Selbst in Ländern mit einer guten medizinischen Versorgung kann es ein Jahr dauern, bis die richtige Diagnose bei den Betroffenen gestellt wird.
Ziel ist Prävention: Wann die Chance verpasst istPatienten würden zwar behandelt, könnten aber nicht geheilt werden. Entscheidend für das Team, so Rosenstiel weiter, sei die Phase kurz vor oder nach der Diagnose. Das Ziel ist Prävention, "und das ist das Neue an unserem Projekt: Wir glauben, da noch etwas verhindern zu können". Wenn jedoch schon zehn Jahre lang Entzündungen an Gelenken oder im Darm stattfänden, "dann ist die Chance verpasst, noch entscheidend etwas am Verlauf zu ändern".
Um den Verlauf beobachten zu können, haben die Wissenschaftler Kohorten zusammengestellt von Patienten, die entweder das Risiko für Rheumatoide Arthritis oder chronisch-entzündliche Darmerkrankungen in sich tragen oder bereits eine Diagnose erhielten. Basis der Forschung sind die Aufzeichnungen dieser Studienteilnehmer in einem elektronischen Tagebuch oder über eine Art Smartwatch.
Mithilfe dieser Patienten wollen die Wissenschaftler versuchen, innovative Biomarker zu finden, Botenstoffe aus dem Blutkreislauf oder aus betroffenem Gewebe. Damit ließe sich dann zum Beispiel ein bevorstehender Krankheitsschub vorhersehen, ein Fortschreiten der Krankheit. Die Biomarker sollen auch mit Heimtests aus Blut- und Stuhlproben festgestellt werden können.
Auf einzelnen Patienten
abgestimmtDas Prinzip sei ähnlich, wie man es etwa von der Zahl der roten Blutkörperchen im Blutbild kennt, erklärt Rosenstiel. "Das Ziel ist, Ärzten später mit validierten Biomarkern molekulare Entscheidungshilfen an die Hand zu geben, damit sie sich den Patienten näher angucken." Vorbeugung und Behandlung sollen dann individuell abgestimmt werden auf den einzelnen Patienten.
"Es ist nicht wie früher, wo man als Arzt patriarchalisch entscheidet, was richtig ist für den Patienten." Stattdessen berichten die Studienteilnehmer selbst von ihren Einschränkungen im Alltag, um das Krankheitsbild zu vervollständigen. Darüber hinaus würden sie aktiv an der Forschung zu personalisierter Prävention beteiligt.
Koordiniert wird
von Kiel ausUnd wie wird die internationale Forschergruppe von Kiel aus koordiniert? "Das ist relativ unspektakulär", erklärt Rosenstiel. Die Arbeit wurde in Pakete eingeteilt, die jeweils von einer Gruppe betreut werden. In Telefon- und Videokonferenzen erfolgt der Austausch. "Wichtig sind aber auch persönliche Treffen, die Forschungskulturen in Europa zusammenbringen."
Das Projekt ist umso wichtiger, als die Mediziner davon ausgehen, dass chronische Entzündungskrankheiten zunehmen werden. Bis 2030, so die Prognose, sollen mehr als zehn Prozent der europäischen Bevölkerung davon betroffen sein. Das sei mit "erheblichen Belastungen für Betroffene und Gesundheitssysteme verbunden", heißt es vom UKSH. Gleichzeitig bestehe hier "eine erhebliche Versorgungslücke", insbesondere in den Bereichen Prävention und frühzeitige Intervention.
Diese Lücke soll nun geschlossen werden. Professor Stefan Schreiber, Direktor der Klinik für Innere Medizin I am UKSH, Campus Kiel, und Sprecher des Exzellenzclusters PMI: "Wenn wir diese Krankheiten wirksamer behandeln wollen, müssen wir neue, einfach anwendbare Methoden finden, um die Gesundheit der Betroffenen frühzeitig positiv zu beeinflussen."