Rotenburger Kreiszeitung vom 05.06.2023, S. 7 (Tageszeitung / täglich ausser Sonntag, Rotenburg (Wümme))
Rubrik im PS: | Gesundheitswesen in der Region |
Autor: | Ulla Heyne |
Auflage: | ∑ 3.447 |
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Ressort: | LANDK_Rotenb |
Ein Bypass im Vorstudium
Studierende aus den USA hospitieren im Rotenburger Diako
Rotenburg – Sie sind gerade mal 20 oder 21, stehen noch ganz am Anfang ihrer medizinischen Karriere und haben in den letzten zwei Wochen im OP das Legen von Bypässen, die Entfernung eines Hirntumors oder die Amputation eines Beins miterlebt – und können ihr Glück über die hier gemachten Erfahrungen kaum fassen. Sie alle stammen aus dem amerikanischen Illinois und sind "pre medical"-Studierende, einem Vorstudium für angehende Biologen, aber eben auch Mediziner.
Diesen Berufsweg einzuschlagen, dafür habe die insgesamt dreiwöchige Hospitation am Rotenburger Diakonieklinikum letzte Gewissheit gegeben, erklärt Erika Isaacs. Sie, zwei weitere junge Frauen und ein Mann wohnen seit fast drei Wochen auf dem Campus in Unterstedt und pendeln täglich zur Gefäßchirurgie des Rotenburger Krankenhauses. Sie überzeugten an der heimischen Uni bei den Auswahlgesprächen und ergatterten einen der begehrten acht Plätze jährlich – ein Glücksfall. Nicht nur, weil sie hier Einblicke in den Arbeitsalltag von Chirurgen bekommen, die sonst höchsten höheren Semestern vorbehalten sind – nein, der Aufenthalt ist für alle auch noch erschwinglich.
Keine Selbstverständlichkeit in einem Land, in dem fertig ausgebildete Ärzte am Anfang ihrer Karriere locker 200 000 bis 250 000 Dollar Schulden auf dem Buckel haben. Das war für Kailynn Berger einer der Beweggründe für die Bewerbung: "Eigentlich hatte ich einen Platz an einer Highschool in Italien sicher, aber dann kam Corona." Das Praktikum in Rotenburg sei finanziell erschwinglich, "dafür sind wir sehr dankbar!" Auch Zachary Sibila hat Glück: Er kann seinen Platz fürs Vorstudium finanzieren, weil er als talentierter Footballer ein Stipendium bekommen hat.
Die Unterschiede der Gesundheitssysteme und ihrer Finanzierung bieten nicht nur den vier jungen Amerikanern Anlass zu vergleichen. Auch Dr. Michael Feldmann, der die Praktika initiiert hat und ihre Durchführung maßgeblich begleitet, stellt bei seinen jährlichen Besuchen in Illinois fest: "Jedes Mal, wenn ich in die USA reise, werden mir die Unterschiede der Systeme und Kulturen bewusster!" Das fange schon bei der Ausstattung der Kliniken an: "Beim Staat um Förderung betteln müssen die nicht – dank privater Sponsoren haben sie dort alles, was man braucht!" Die Kehrseite der Medaille, wie die Studierenden bestätigen: "Für Ärzte mag es dort paradiesisch sein, wenn man einen gewissen Stand erreicht hat, für die Patienten weniger", meint Berger. Das bestätigt auch Linet Rivas: "Hier in Deutschland wird geguckt, was braucht der Patient, bei uns geht es eher danach: Was zahlt die Krankenversicherung?"
Dass der jährliche deutsch-amerikanische Kulturvergleich und das Eintauchen in Arbeitswelt ins Rotenburger Krankenhaus zustande kam, ist wie so oft einem Zufall geschuldet. 2018 hospitierte eine Studierende der Universität Illinois, gebürtige Verdenerin, am Diako: "Ihr hat es so gut gefallen, dass sie beim Dekan vorsprach – und seitdem Praktika hier organisiert", erzählt Gefäßchirurg Feldmann beeindruckt. 2019 kamen die ersten beiden Gruppen à vier Studierenden, erst im Vorstudium, dann fortgeschrittenen Semesters, um hier zu hospitieren – dann kam Corona.
Selbst war Feldmann schon zwei Mal an der Partneruni, um Vorträge zu halten und das Diako vorzustellen: "Wenn man das Bild des Diako groß auf der Leinwand im Hörsaal sieht, macht das schon ein bisschen stolz", so der Globetrotter. Er begrüßt es, unter den zahlreichen internationalen Ärzten und Hospitanten "zur Abwechslung auch mal Gäste westlich von uns" dabei zu haben. Zusammen mit Fachkräften aus Syrien oder dem Iran "eine schöne Mischung aus Abend- und Morgenland" – und ein Booster für sein Fachenglisch, ist die "Amtssprache" im OP mit den Gästen Englisch. Die kommen aus dem Schwärmen für den "Gastgeber" gar nicht mehr heraus –nimmt er sich doch die Zeit, auch bei komplizierten Operationen einer Hybrid-OP kürzlich genau zu erklären, was er da tut. "Wenn die Situation volle Konzentration erfordert und es so schnell gehen muss, dass für Erklärungen keine Zeit ist, merken das die Studierenden und halten sich mit Fragen zurück", beschreibt er das einvernehmliche Wirken.
Am meisten beeindruckt die vier angehenden Mediziner jedoch, dass sie hier auch ganz konkret Hand anlegen dürfen, etwa beim Nähen von Wunden, beim Fäden ziehen oder Eröffnen eines Stents – Erlebnisse, die sie bei ihrer Abreise in wenigen Tagen mit nach Hause nehmen – genau wie die Eindrücke einer anderen Kultur, "mit Currywurst und der Gewissheit, selbst nachts mit dem Fahrrad, , Öffis’ oder im Taxi bedenkenlos und sicher unterwegs sein zu können", wie Isaacs es zusammenfasst.
Alle vier könnten sich vorstellen, im Ausland zu studieren oder später zu arbeiten – theoretisch sind Feldmanns Bemühungen also auch eine potenzielle Fachpersonal-Akquise. Gleichwohl: Fürs Studium im Ausland fehlen oft die finanziellen Mittel, und später ist der angehäufte Schuldenberg so hoch, dass er erst mal abgearbeitet werden muss – als arrivierter Arzt verdient man in den USA deutlich mehr. Ein Aspekt, den Feldberg aus persönlicher Erfahrung kennt, ist die interkulturelle Annäherung: Der eigene Sohn, ebenfalls angehender Mediziner, hat in einer der 20 Studierenden, die den Wümmeort bisher besucht haben und zu denen Vater Michael noch einen persönlichen, fast väterlichen Kontakt hält, seine Partnerin gefunden.