Heilbronner Stimme, Heilbronn vom 19.07.2024, S. 26 (Tageszeitung / täglich außer Sonntag, Heilbronn)
Rubrik im PS: | |
Autor: | Kilian Krauth |
Auflage: | 14.580 |
Reichweite: | 31.639 |
Ressort: | Region |
"Wir haben die Latte hochgelegt"
Professor Schrenk über Forschungen zu einem mutmaßlich genialen Modell Robert Mayers
Robert Mayer gilt als größter Sohn Heilbronns. Er formulierte als erster Wissenschaftler den für Physik, Chemie und Medizin wichtigen Energieerhaltungssatz, den er so auf den Punkt brachte: "Nichts wird aus nichts. Nichts wird zu nichts." Dass er auch ein genialer Mediziner war, ist weniger bekannt. Mit einem interdisziplinären Projekt, bei dem Professor Christhard Schrenk vom Stadtarchiv Heilbronn den Hut aufhat, könnte sich das ändern. Der Archivdirektor hofft im Stimme-Interview auf sensationelle Ergebnisse.
Wir stehen hier im Haus der Stadtgeschichte an der Robert-Mayer-Vitrine. Was hat es denn mit diesem Teil da auf sich, ist das eine Dampfmaschine?
Schrenk: Ihre Assoziation ist interessant, sie passt auch gut ins 19. Jahrhundert. Es ist aber ein mechanisches hämodynamisches Modell, das den Blutfluss zwischen Herz und Lunge darstellt, konstruiert vom Heilbronner Mechaniker- und Optikermeister Hermann Autenrieth nach den Anweisungen von Robert Mayer. Das Spannende: Es stammt aus der Zeit um 1850. In der Medizin war die Funktion des Herzens damals ein großes Thema, aber meist hat man mit Tierherzen experimentiert. Das Sensationelle ist: Bisher geht man davon aus, dass es die ersten tauglichen mechanischen Modelle des Herz-Lungen-Blutkreislaufs erst 40 Jahre später gab.
Aber sagen Sie, hat es tatsächlich funktioniert?
Schrenk: Das ist die zentrale Frage: ob das Mayer´sche Modell heutigen Anforderungen der Physiologie standhält. Wir haben deswegen eine Projektgruppe zusammengestellt aus verschiedenen Fachleuten: Dr. Georg Mattheis, Herzchirurg und Erfinder des ECMO-Beatmungsgeräts, Prof. Dr. Giorgio Cattaneo, Chef des Instituts für Biomedizinische Technik der Universität Stuttgart, er hat seinen Assistenten Christoph Schmidt hinzugezogen. Außerdem gehören zu unserer Arbeitsgruppe Antje Kerdels und Dieter Thumm, sie als Leiterin des Robert-Mayer-Gymnasiums, er als Leiter der Wilhelm-Maybach-Schule. Als Pädagogen tragen sie den didaktischen Sachverstand bei. Ich selbst bringe als Leiter des Stadtarchivs den stadtgeschichtlichen Hintergrund und das Wissen über Robert Mayer ein. Das Starke ist, dass wir in dieser Arbeitsgruppe biomedizintechnische, historische, physikalische, mechanische, pädagogische und didaktische Aspekte miteinander verbinden.
Und haben Sie schon erste Erkenntnisse?
Schrenk: Ja. Mit Hilfe von Professor Pereira, Chefarzt der Radiologie am Gesundbrunnen, haben wir das Modell mit großem Aufwand in einen Computertomografen geschoben. Da wurden 3000 Schichtaufnahmen gemacht. Diese CT-Daten hat dann die Uni Stuttgart durchgerechnet. Das Ergebnis ist toll: Das Mayer-Modell kann die Druckverhältnisse im Herz-Lungen-Blutkreislauf sehr gut simulieren. Man kann mit dem Modell sogar Phänomene wie Herzinsuffizienz darstellen. Das zeigte insbesondere auch eine zusätzliche endoskopische Untersuchung.
Grau ist alle Theorie. Taugt es auch in der Praxis?
Schrenk: Stimmt. Wir haben jetzt zwar ein starkes Indiz, dass es in der Praxis taugt, aber noch keinen endgültigen Beweis. Es gibt Fragen, die offen sind. Deswegen haben wir dieser Tage die zweite Stufe des Forschungsprojekts gestartet, bei der die Uni Stuttgart Mayers Modell nachbaut. Das ist schwierig, weil es kein einziges Bauteil einfach im Baumarkt zu kaufen gibt. Man muss alle einzeln herstellen. Gleichzeitig wird moderne Sensorik eingebaut, mit der man später in Echtzeit Messungen machen kann, um wirklich zu sehen, was dieses Modell taugt.
Klingt aufwendig, wie finanzieren Sie das?
Schrenk: Ja. Die Heilbronner Bürgerstiftung und die Arnfried-Meyer-Stiftung geben zusammen 30 000 Euro, die Uni Stuttgart bringt eigene Mittel ein. Der Stadtetat ist außen vor.
Wie gehen Sie jetzt im zweiten Schritt vor?
Schrenk: Wir müssen letztlich aufzeigen, dass drei Dinge in Einklang sind: Erstens Mayers Berechnungen von 1850, die ihm als Grundlage für sein Modell dienten. Zweitens die Berechnungen der Uni Stuttgart auf Basis der CT-Daten. Drittens die anstehenden Messungen im nachzubauenden Modell. Und dann muss das alles natürlich noch übereinstimmen mit den physiologischen Gegebenheiten, wie man sie heute kennt. Wir haben die Latte also sehr hoch gelegt. Aber wenn alles stimmt, dann wäre Mayers hämodynamisches Modell wirklich genial, richtungsweisend, ja, medizinhistorisch sensationell.
Sind Sie sicher, dass es niemand anders gab, der damals Ähnliches herausgefunden hat?
Schrenk: Wir argumentieren auf der Basis der gesamten zugänglichen medizinhistorischen Literatur. Bislang gilt "nach 1890" als der Zeitpunkt, an dem solche Modelle stimmig konstruiert wurden. Mayer war schon um 1850 dran. Aber man kann natürlich nicht ausschließen, dass künftige Forschungen neue Erkenntnisse bringen – wie jetzt unsere zu Robert Mayer.
Wann werden ihre Ergebnisse feststehen und: Wo und wie werden Sie sie präsentieren?
Schrenk: Die Ergebnisse liegen hoffentlich Anfang 2025 vor. Wir wollen sie dann zeitnah publizieren und präsentieren, natürlich in Heilbronn, aber auch auf Kardiologenkongressen in Deutschland und in den USA, um die weltweite Community zu erreichen.
Warum wird Mayers Leistung erst jetzt gewürdigt?
Schrenk: Das gehört zu den spannenden Fragen, die ich seit Jahrzehnten untersuche: Wieso wird Robert Mayer immer so unterschätzt? Sein hämodynamisches Modell hat er zu Lebzeiten für Demonstrationszwecke benutzt. Es hat es also seinen Zeitgenossen gezeigt. Das heißt: Damals hat man davon gewusst. Aber dann geriet das Modell in Vergessenheit. Zum Glück hat seine Familie den wissenschaftlichen Nachlass und damit auch das Modell von Robert Mayer bewahrt, so dass der Nachlass später in den Besitz des Stadtarchivs kommen konnte.
Zunächst hatte man das Modell für eine Maschine gehalten, mit der man das mechanische Wärmeäquivalent ausrechnen konnte, also Mayers erste große Leistung: wie sich Wärme und Bewegung gegenseitig umwandeln und umrechnen lassen. Mein Amtsvorgänger Dr. Helmut Schmolz hat sich in den späten 1960er Jahren mit dem Modell beschäftigt und als erster dessen wirklichen Sinn erkannt. Aber er konnte den letzten Beweis nicht führen, dass das hämodynamische Modell heutigen physiologischen Erkenntnissen standhält.
Hat ihr Projekt auch einen Mehrwert?
Schrenk: Mir geht es bei allen Projekten immer darum, auch an die Anwendung und in die Zukunft zu denken. Das Modell soll später auch für Forschungs- und Lehrzwecke genutzt werden. Das Robert-Mayer-Gymnasium und die Wilhelm-Maybach-Schule bringen ihren pädagogisch-praktischen Sachverstand ein, etwa bezüglich schulischer Anwendungen im Bereich der Physik, aber auch Biologie, Physiologie. Und wenn es das Modell mal als Nachbau gibt, kann man es auch im praktischen Unterricht einsetzen, in der Maybach-Schule etwa im Bereich Maschinenbau und Mechanik.
So ein spannendes Projekt führt sicher zu erhöhtem Blutdruck. Bliebe eigentlich nur noch eine Frage: Wie hoch ist denn der ideale Blutdruck?
Schrenk: Da müssen Sie die Mediziner fragen. Soweit ich weiß, sagt man immer, 120 zu 80 sei ein idealer Blutdruck. Und das sind übrigens auch ziemlich genau meine Werte.
"Wir haben das Modell sogar in einen Computertomografen geschoben."
"Wenn alles stimmt, wäre Mayers Modell wirklich genial, sensationell."