Welt Bundesausgabe, Die vom 02.04.2024, S. 8 (Tageszeitung / täglich außer Samstag und Sonntag, Berlin)
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Autor: | Axel Bojanowski |
Auflage: | 121.788 |
Reichweite: | 339.789 |
Ressort: | Wissenschaft |
Quellrubrik: | Wissenschaft |
"Die deutsche Vision ist unbezahlbar"
Teuer, klimafeindlich, unsicher: Energieforscher André Thess zieht eine vernichtende Bilanz der Energiewende
Von Axel Bojanowski
Der Physiker André Thess, Jahrgang 1964, ist Energieforscher an der Universität Stuttgart. Zuvor arbeitete er unter anderem an Instituten in Lyon, Grenoble, an der Princeton University in den USA, sowie an Universitäten in Japan und China. Er kritisiert den Opportunismus von Wirtschaftsmanagern und Medien und erklärt, warum unabhängige Wissenschaftler von der Planung der Energiewende ausgeschlossen wurden.
WELT:
Herr Thess, die Bundesregierung verbreitet ein erstaunliches Papier, in dem sie darlegt, dass Deutschland seinen Energieverbrauch in den nächsten 20 Jahren fast halbieren wird. Kann das klappen?
André Thess:
Lassen Sie es mich so sagen: Das Szenario ist kompatibel mit den Gesetzen der Physik, aber das ist ja nicht die einzige Voraussetzung für das Gelingen eines Projekts. Visionen sind legitim, aber auch die Energiewende krankt an optimistischen Kostenschätzungen.
Es ist eine spektakuläre Vision. Bislang galt: Je weniger Energie, desto geringer der Wohlstand eines Landes, so zeigt es die Statistik. Kann Deutschland das erste Land der Welt werden, dass trotz schrumpfender Energieversorgung seinen Wohlstand mehren oder wenigstens halten kann?
Die mir bekannten Fallbeispiele lassen zweifeln. Die Kanareninsel El Hierro zum Beispiel hat versucht, komplett ohne fossile Energien auszukommen. 50 Prozent erneuerbarer Strom wurden erreicht, für 85 Millionen Euro, also etwa 15.000 Euro pro Einwohner. Die Kosten für die zweiten 50 Prozent wären deutlich teurer, aber das Projekt stockt. Dabei handelt es sich um eine wenig industrialisierte kleine Insel mit besseren Windverhältnissen als bei uns. Prinzipiell wäre es aber möglich, selbst ein Industrieland wie Deutschland komplett auf Sonnenenergie und Windkraft umzustellen. Nach meiner Schätzung ergeben sich allerdings Kosten von knapp zehn Billionen Euro, also 100.000 Euro pro Einwohner. Gestreckt auf 20 Jahre müsste Deutschland jährlich rund zehn Prozent seiner Wirtschaftsleistung für die Klimaneutralität ausgeben. Aber darüber redet man lieber nicht, denn mit solchen Zahlen bekommen Sie keinen Applaus und keine Einladungen in Talkshows.
Mittlerweile mehren sich kritische Stimmen. Der Chef des Energiekonzerns E.on, Leonhard Birnbaum, sagte, die Geschichte der billigen Energiewende könne nicht mehr erzählt werden.
Die Verantwortungsträger aus der Wirtschaft hätten vor fünf bis zehn Jahren ihre Kritik lauter einbringen müssen, aber sie haben opportunistisch alles durchgewunken.
Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt sagte anlässlich des Atomausstiegs: "Das Aus für die Atomkraft ist auch ein entschiedenes Ja für die Erneuerbaren. Das ist für die Zukunft entscheidend. Energie aus Wind und Sonne kriegen wir zum Nulltarif, verlässlich und sicher. Mehr Erneuerbare machen den Strom für uns alle günstiger."
Pro Kilowattstunde können Solarenergie und Wind tatsächlich preiswerter als konventionelle Stromquellen sein. Aber man braucht eine Absicherung für die Nacht und für dunkle und windarme Zeiten. Dafür eignen sich entweder regelbare Energiequellen wie Kernkraft oder fossile Energien, oder es sind Speicher im Terawattstunden-Maßstab nötig. Beides macht eine auf Sonne und Wind fokussierte Energieversorgung teuer - das wird gerne verschwiegen. Ich sage es als Energiespeicher-Forscher ungern, aber einfache Rechnungen zeigen, dass konventionelle grundlastfähige Energie heute weniger teuer ist als erneuerbare Energien plus Speicher. Der Weltklimarat IPCC sieht Kernkraft übrigens als CO₂-arme Energiequelle, die sich nach meiner Einschätzung gut mit Wind und Sonne ergänzt.
Kernkraft und fossile Energie schaltet Deutschland ab. Die Energiespeicher können den Bedarf gerade mal für eine gute halbe Stunde decken. Der Bau eines Pumpspeichers dauert 15 bis 20 Jahre. Die Regierung plant den Bau von 40 Gaskraftwerken, die allerdings CO₂ emittieren. Gibt es Alternativen?
Theoretisch ja. Es ist möglich, elektrischen Strom in eine Batterie oder einen Flüssigsalzwärmespeicher einzuspeichern, und es ist prinzipiell auch möglich, Strom in Wasserstoff umzuwandeln und den zu speichern. Das Problem ist, dass alle diese Möglichkeiten teurer sind als die konventionellen Energiequellen. Ich arbeite als Energieforscher daran, dass Speicher billiger werden, aber es dauert noch.
Wie weit sind Sie?
In der Technologie sprechen wir von "Reifegraden": Wenn Sie beispielsweise ein Papierflugzeug im Uni-Hörsaal fliegen lassen, dann sind Sie bei Reifegrad 1, wenn ein Verkehrsflugzeug Passagiere nach Mallorca fliegt, haben sie den höchsten Reifegrad 9. Wir entwickeln sogenannte Carnot-Batterien und sind bei Reifegrad 5 bis 6 angelangt. Das sind große Stromspeicher, die elektrische Energie mit einer Hochtemperatur-Wärmepumpe in thermische Energie umwandeln und sie in flüssigen Salzen speichern, in Behältern mit 30 Metern Durchmesser und 30 Metern Höhe. Diese über 500 Grad heiße Substanz liefert bei Bedarf über Dampfturbinen Strom. Solche Anlagen können für Städte von der Größe von Stuttgart die Energie für eine Nacht speichern. Konventionelle Batterien sind nur für deutliche kürzere Zeiten bezahlbar.
Deutschland will auf Wasserstoff setzen. Er soll mit Sonnenenergie in den Subtropen hergestellt werden, nach Deutschland verschifft werden. Das klappt prinzipiell, oder?
Wasserstoff ist ein wichtiger Energieträger, und Importe sind technisch möglich, aber Sie ahnen es...?
Die Kosten?
Genau. Die Herstellung von Wasserstoff und die anschließende Rückverstromung in elektrische Energie bedeuten jeweils Energieverluste, was die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Stromquellen mindert. Gelänge es, grünen Wasserstoff für weniger als 1 Euro pro Kilogramm zu erzeugen, dann wäre er begehrt. Aber diese Zahl halte ich in den nächsten 20 Jahren für unwahrscheinlich. Auch die angestrebte Herstellung von "grünem Stahl" etwa, also von Stahl, der mit Hilfe von Wasserstoff aus CO₂-freier Energie hergestellt wird, ist heute leider noch nicht wettbewerbsfähig.
Die deutsche Energiewende ist der Traum davon, möglichst alles mit "grünem Strom" zu elektrifizieren.
Technisch wäre das machbar, aber nach meiner Einschätzung unbezahlbar. Neben den Kosten für Erzeugung, Speicherung und Verteilung erneuerbarer Energie gibt es ein weiteres Problem: Die Kosten klimaneutraler Materialien für das künftige Energiesystem. Eine Tonne CO₂-neutraler Stahl, Aluminium, Glas oder Beton für den Bau der Wind-, Solar- oder Kernkraftwerke der Zukunft kostet mehr als die heutigen Materialien. Da Wind- und Solarkraftwerke pro erzeugter Kilowattstunde einen höheren Materialeinsatz haben als etwa Kernkraftwerke-Fachleute sprechen von Enery Return on Energy Invested (EROI) - sind sie von den Preisen künftiger klimaneutraler Materialien stärker betroffen. Deshalb halte ich eine All Electric World allein auf der Basis von Sonne und Wind nicht für ökonomisch tragfähig.
Ist es denn einen Versuch wert?
Ich halte das Ziel der Klimaneutralität prinzipiell für sinnvoll, aber es ist ein globales Ziel. Deutschland mit seinem Anteil von zwei Prozent an den weltweiten CO₂-Emissionen muss überlegen, welchen Beitrag es leisten kann. Ich meine, ein wichtiger Beitrag wäre es, innovative Technologien zu entwickeln, um beispielsweise chinesische Kohlekraftwerke umzurüsten, sodass sie weniger CO₂ emittieren oder Energiespeicher zu konstruieren, die die weltweite Dekarbonisierung in Schwung bringen.
Die Hälfte des Stroms in Deutschland wird bald aus Erneuerbaren erzeugt.
Nur rund 20 Prozent unseres gesamten Energiebedarfes wird über Strom gedeckt. Insgesamt haben Wind und Sonne einen Anteil von knapp 10 Prozent unseres gesamten Energiebedarfs. Ich würde die Energiewende an anderen Kriterien beurteilen.
Woran messen Sie den Fortschritt?
Das erste Kriterium wäre die Frage, ob Energie preiswerter geworden ist. Die Antwort lautet leider: nein. Die Industrie verlagert mittlerweile Produktion ins Ausland, und Strompreise für Privathaushalte sind Weltspitze. Das zweite Kriterium wäre die Frage, ob Energie CO₂-arm ist. Die Antwort lautet ebenfalls leider: nein. Unser Nachbarland Frankreich emittiert pro Person nur fünf Tonnen CO₂ pro Jahr, während es bei uns fast doppelt so viel sind. Das dritte Kriterium wäre die Frage, ob die Energieversorgung sicherer geworden ist, und auch diese Antwort lautet leider: nein. Wenn wir nach 20 Jahren Energiewende und nach mehreren Hundert Milliarden Euro Subventionen keine internationale Wettbewerbsfähigkeit bei diesen drei Kriterien sehen, dann kann ich dieses Projekt beim besten Willen nicht als Erfolg bezeichnen.
Stromausfälle haben nicht zugenommen, warum also kritisieren Sie die Netzstabilität?
Die lässt sich anhand der Kosten und der Zahl der Regeleingriffe ins Netz bewerten - beide sind teurer und häufiger geworden. Der Aufwand ist erheblich gestiegen, um das Stromsystem stabil zu halten. Und wenn in Baden-Württemberg neuerdings eine App anzeigt, wann man Stromverbrauch mindern sollte, ist das leider kein Zeichen für Versorgungssicherheit.
Die Verfechter der Energiewende sagen, es wäre nur zu langsam gegangen, das Erneuerbare-Energienetz müsste schneller gebaut werden.
Als das Unwort des Jahres 2024 schlage ich "Energiewende 2.0" vor. Hinter dem Begriff verbirgt sich die Vorstellung, man könnte zum Erfolg kommen, indem der Staat noch mehr subventioniert und regelt. Das ist nach meiner Meinung ein Irrglaube. Für erfolgreichen Klimaschutz brauchen wir nicht mehr, sondern weniger Staat.
Warum kommen eigentlich Energieforscher in der öffentlichen Debatte kaum vor?
Optimistische Szenarien reichweitenstarker Ökonomen passen anscheinend besser ins Weltbild. Die Politik nimmt ihre Informationen gern aus staatsgeförderten Denkfabriken und zu wenig aus unabhängiger Forschung. Das gerade wäre aber notwendig für eine sachliche Diskussion.
Der Atomausstieg wurde aber von Experten durchgewunken, hieß es aus der Regierung.
In der betreffenden Ethik-Kommission 2011 saßen weder Kraftwerks- noch Energieexperten. Die Mitglieder waren handverlesen, ihre Kernkraft-Skepsis war bekannt. Ich habe vor zwei Jahren mit 20 anderen Professoren in der "Stuttgarter Erklärung" den Weiterbetrieb der deutschen Kernkraftwerke gefordert. Niemand von uns wurde je in eine Talkshow eingeladen.
Abbildung: Fotofabrik Stuttgart