Pressespiegel vom 11.09.2023

Inhaltsverzeichnis

Die Familienunternehmer / Die Jungen Unternehmer

Unternehmen kritisieren Entlastungspaket

"Das ist ein Wahnsinn an bürokratischem Aufwand"

WirtschaftsWoche Online am 08.09.2023

Marie-Christine Ostermann, Familienunternehmer-Präsidentin: „Die krassen Vorgaben aus Brüssel werden in Deutschland noch verschlimmbessert“.

Sarna Röser ist so frei

"One in, one out"? Diese Zauberformel gegen Bürokratie hat leider nie gewirkt

WirtschaftsWoche Online am 06.09.2023

Sarna Röser, Bundesvorsitzende DIE JUNGEN UNTERNEHMER, in ihrer Kolumne zur Bürokratie.

Alle sind schuld an der Bürokratie

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 10.09.2023, S. 1

So sieht es zum Beispiel der Krefelder Unternehmer Lutz Goebel. Er sitzt dem Normenkontrollrat vor, der im Auftrag der Bundesregierung Vorschläge für den Bürokratieabbau machen soll.

Wirtschaftspolitik

G20

Westen formt neue Allianzen

Handelsblatt vom 11.09.2023, S. 4-5

Europa und Amerika punkten beim G20-Gipfel mit einer Infrastrukturinitiative. Auch die Weltbank soll reformiert werden.

Superstar im Wartestand

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.09.2023, S. 19

Vor dem G-20-Gipfel in Neu Delhi ruft der Westen Indien zur kommenden Wirtschaftsmacht aus – schon wieder. Wird der indische Traum nun endlich wahr?

Wirtschaftliche Vernunft zu lange vernachlässigt

Welt am Sonntag, Bundesausgabe vom 10.09.2023, S. 2

Bundesfinanzminister Christian Lindner ruft zu einer Besinnung auf die Stärken der freien Marktwirtschaft auf. Selbst Unternehmen setzten heute zu reflexhaft auf den Staat.

Energiepolitik

ENERGIEKOSTEN

Lindner geht beim Strompreis auf Industrie zu

Handelsblatt vom 11.09.2023, S. 9

Eine wichtige Steuerermäßigung für energieintensive Betriebe könnte bleiben – wenn die Gegenfinanzierung gesichert ist.

GEG

So fördert der Staat künftig Wärmepumpe und Co.

Handelsblatt vom 11.09.2023, S. 8

Der Bundestag hat das Heizungsgesetz beschlossen. Zudem wurden die Bedingungen präzisiert, zu denen Bürger ab 2024 ihre Heizungen austauschen können.

Strompreise runter - nicht nur für die Industrie

Welt Bundesausgabe, Die vom 11.09.2023, S. 7

Unternehmen und Verbraucher in Deutschland ächzen unter den hohen Strompreisen. Diese sind jedoch nicht nur das Ergebnis globaler Entwicklungen und Folge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Vielmehr sind sie auch das Produkt eine verfehlten nationalen Energie- und Steuerpolitik. Die deutschen Energiesteuern zählen zu den höchsten in der EU.

Arbeitsmarkt

Zuwanderung

Bloß nicht Deutschland!

Spiegel, Der vom 09.09.2023, S. 60-65

Um ihren Wohlstand zu bewahren, braucht die Bundesrepublik mehr Fachkräfte aus dem Ausland. Doch es kommen zu wenige. Und wer hier ist, will oft schnell wieder fort. Hochqualifizierte berichten, was sie an diesem Land stört.

Junge Menschen mit Elan gesucht

Welt Bundesausgabe, Die vom 11.09.2023, S. WR4

Viele Ausbildungsplätze sind im Mittelstand unbesetzt geblieben.

Artikel

Die Familienunternehmer / Die Jungen Unternehmer

WirtschaftsWoche Online am 08.09.2023

Unternehmen kritisieren Entlastungspaket

"Das ist ein Wahnsinn an bürokratischem Aufwand"

Aktenberge adé? Von wegen. Wenn die Regierung endlich Bürokratie abbauen will, muss sie mehr bieten als ihre neuen Eckpunkte, mahnt Familienunternehmerin Marie-Christine Ostermann.

Zum Originalbeitrag

Erstveröffentlichung: 2023-09-08 14:56:00 letzte Aktualisierung: 2023-09-08 18:24:05

Wenn Marie-Christine Ostermann von ihrem Sortiment erzählt, dann klingt die Firmenchefin stolz – und ratlos zugleich: 20.000 Produkte hat sie mit Rullko im Angebot, seit 100 Jahren liefert das Unternehmen Lebensmittel für Gastronomie und Gemeinschaftsverpflegung. Gerade erst hat Ostermann das besondere Jubiläum des Familienbetriebs in Hamm gefeiert, doch einen Wunsch hat ihr die Berliner Ampel-Koalition noch immer nicht erfüllt: weniger Bürokratie.

20.000 Produkte, 200 Beschäftigte, "wie soll ein mittelständischer Betrieb meiner Größe garantieren, dass weltweit überall alle sämtliche Sozial- und Umweltstandards eingehalten werden?", fragt sich Ostermann: "Das ist ein Wahnsinn an bürokratischem Aufwand".

Schöne Versprechen im Koalitionsvertrag

Diesem "Wahnsinn" will die Regierung eigentlich ein Ende bereiten. Schon im Koalitionsvertrag hatte sie versprochen, dass die Wirtschaft – "insbesondere die Selbstständigen" – "mehr Zeit für ihre eigentlichen Aufgaben" bekommen sollen.

Marie Christine Ostermann. Foto: Anne Großmann Fotografie

Rund eineinhalb Jahre später hat sie bei ihrer Klausurtagung in Meseberg nun die ersehnten Eckpunkte für ein "Bürokratieentlastungsgesetz" vorgelegt – doch nicht nur Ostermann ist enttäuscht. Eine "echte Trendwende", wie sie Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) versprochen hat, sieht anders aus.

"Die Mordsbürokratie ist das allergrößte Hemmnis"

"Die Mordsbürokratie ist das allergrößte Hemmnis, am Standort Deutschland noch zu investieren", warnt Ostermann, die auch Präsidentin des Verbandes der Familienunternehmer ist, im WirtschaftsWoche-Podcast Chefgespräch. Zwar würden viele Vorgaben aus Brüssel kommen, doch in Berlin würden diese sogar "noch mal verschlimmbessert", erklärt Ostermann. Die Regierung habe "zu wenig Verständnis dafür, was im echten Leben, was in der Praxis, in den Unternehmen passiert."

Wie klein Buschmanns Wurf ist, zeigen die vermeintlich besonders großen Errungenschaften: Buchungsbelege müssen künftig nur noch acht statt zehn Jahre aufbewahrt werden, in Hotels muss nicht mehr jeder einzelne Gast einen Meldeschein ausfüllen, verkündet der Minister. 2,3 Milliarden Euro umfasse das Volumen, mit dem die Unternehmen entlastet würden – nur ein Kleckerbetrag angesichts der Bürokratiekosten insgesamt.

Foto: imago images

16,7 Milliarden Euro Bürokratiekosten – ein Rekord

16,7 Milliarden Euro werden jährlich fällig, um neue Vorschriften zu erfüllen, zeigt eine Berechnung des Nationalen Normenkontrollrats. Ein Rekord – und das im Jahr 2023. Aktenberge adé? Nicht in Deutschland, dem digitalen Entwicklungsland.

Ostermann hat dafür ein Beispiel aus der Praxis parat: So gibt es zwar die digitale Personalakte, erzählt sie im Chefgespräch, "trotzdem aber müssen Arbeitsverträge nach wie vor ausgedruckt, analog unterschrieben und abgeheftet werden". Während sich Minister Buschmann also für verkürzte Aufbewahrungsfristen von Belegen feiern lassen will, verstopfen immer mehr Personalordner nicht nur Schränke, sondern inzwischen ganze Bürozimmer.

"Das ist doch völlig absurd", sagt auch Lutz Goebel, Vorsitzender des Nationalen Normenkontrollrats und Geschäftsführender Gesellschafter des Krefelder Antriebsspezialisten Henkelhausen: "Mit den Papierbergen können ganze Räume gefüllt werden. Wie das den Arbeitnehmerschutz verbessern soll, erschließt sich mir nicht."

Während sich die Regierung in Meseberg lediglich auf Eckpunkte zur Bürokratieentlastung einigen kann, übertrifft das seit Januar geltende Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz bereits sämtliche Befürchtungen der Unternehmen, wie eine bundesweite Befragung des Arbeitsgeberverbands Gesamtmetall unter seinen Mitgliedern im Juni zeigt.

So rechnen kleine Betriebe mit Zusatzkosten von rund 30.000 Euro im Jahr, Mittelständler mit rund 69.000 Euro – und zwar deshalb, weil für die Bürokratie zusätzliches Personal eingestellt werden müsse sowie mehr Geld für externe Dienstleister und den nochmaligen Ausbau des Compliance-Bereiches ausgegeben werden, heißt es bei Gesamtmetall.

Wer profitiert? Die Beratungsfirmen

Aus Ostermanns Sicht wäre eine "Safe Harbour"-Lösung der bessere Angang für das Lieferkettengesetz gewesen. Brüssel hätte Zulieferbetriebe zertifizieren können, ein einmaliger Aufwand statt ständig neue Nachweispflichten durch Unternehmen, die dann "sorgenfrei hätten Geschäfte machen können", erklärt die Rullko-Chefin.

Immerhin eine Branche könne von Deutschlands Bürokratiemonster profitieren, sagt Andre Schulte-Südhoff, Geschäftsführer vom Filtertechnikspezialisten Schuko: "Beratungsunternehmen – da man das als kleines oder mittleres Unternehmen nicht selbstständig umgesetzt bekommt."

Wir war das noch mit dem Versprechen der selbst ernannten Fortschrittkoalition? Mehr Zeit schaffen für "die eigentlichen Aufgaben"? Ostermanns Zwischenbilanz ist ernüchternd: "Wir ertrinken in Bürokratie."

WirtschaftsWoche Online am 06.09.2023

Sarna Röser ist so frei

"One in, one out"? Diese Zauberformel gegen Bürokratie hat leider nie gewirkt

Paragrafen, Vorschriften und Verwaltungen bringen Unternehmen mittlerweile an den Rand ihrer Handlungsfähigkeit, Höchste Zeit, dass wir über Bürokratieabbau ganz neu nachdenken! Eine Kolumne.

Zum Originalbeitrag

Wir Unternehmer hatten hohe Erwartungen an die Kabinettsklausur in Meseberg geknüpft. Zumal die Tagesordnung hoffen ließ, dass die großen Herausforderungen der Wirtschaft wohl erkannt waren: die hohen Kosten unseres Wirtschaftsstandortes, die verkrustete Verwaltung, zu viel Bürokratie. Umso größer war die Enttäuschung: Die gravierenden Probleme unseres Wirtschaftsstandortes wurden zwar diskutiert, aber nicht gelöst. Wenigstens mit dem Wachstumschancengesetz wurden erste wichtige Impulse gesetzt.

Große Enttäuschung gab es allerdings beim Thema Bürokratie. Denn seit Beginn der laufenden Legislaturperiode sind die Bürokratiekosten in den Unternehmen wieder kontinuierlich gestiegen! Mit Spannung wurde daher das Entbürokratisierungsgesetz erwartet - doch die Koalition konnte sich offenbar nur auf ein Eckpunktepapier einigen, in dem die für die Wirtschaft wichtigsten Entlastungen völlig fehlen. Was mit einer umfangreichen Befragung von Wirtschaftsvertretern als Tiger gestartet war, ist als Bettvorleger gelandet. So drastisch muss man es sagen!

Bürokratieabbau muss neu gedacht werden Foto: dpa

Unternehmer verzweifeln, weil die Regierung unaufhörlich selbst neue Bürokratiepflichten schafft, wie mit dem deutschen Lieferkettengesetz. Wenn die Verfasser dieses Gesetzes hier nicht nachbessern wollen, zeigt das eindrucksvoll, welch geringen Stellenwert der Bürokratieabbau bei der Ampel hat. Wichtige Ansatzpunkte wie das Lieferkettengesetz, die A1-Bescheinigung oder die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vermissen wir Unternehmer in den vorgelegten Eckpunkten schmerzlich. Sie stehen exemplarisch für eine Bürokratie, die Unternehmen nahezu handlungsunfähig macht.

Die Bundesregierung und damit jeder einzelne Minister muss aber spätestens jetzt begreifen, dass Überregulierung die unternehmerische Freiheit einschränkt und im Zweifel dazu führt, dass Investitionen gar nicht oder anderswo getätigt werden. In Deutschland bleiben dann Innovationen und Wachstum auf der Strecke. Wer sich aber auf sprudelnde Steuereinnahmen und gute Löhne verlässt, hat den Ernst der Lage - schlichtweg - nicht erkannt. Denn erst wenn die Wirtschaft wächst, können die steigenden Ausgabenwünsche der Minister bedient und Arbeitsplätze hier gehalten werden. Wie heißt es nochmal: Erst erwirtschaften, dann ausgeben?

Wir brauchen eine neue Systematik, um die überbordende Bürokratie zurückzudrängen. Seit Jahren wird das Modell "One in, one out" praktiziert. Diskutiert werden aber auch Ansätze wie "One in, two out". Wie wäre es aber mit einer neuen Methodik? Sollten nicht alle Gesetze spätestens nach zwei Jahren hinsichtlich ihrer bürokratischen Auswirkungen evaluiert werden – also wie eine Art Praxischeck? Das wäre zumindest ein wirksamer Anfang, um Belastungsspitzen für die Unternehmen, aber auch für alle Bürgerinnen und Bürger zu erkennen und gegebenenfalls abzubauen!

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 10.09.2023, S. 1

Alle sind schuld an der Bürokratie

Die Verwaltung könnte viel schlanker sein – wenn die Deutschen nicht so hohe Ansprüche hätten.

Der Kanzler hat schon erkannt, dass die Sache nicht so einfach ist. Lange tat die Ampelregierung so, als könne sie das von ihr angestrebte neue Deutschlandtempo quasi im Alleingang durchsetzen, ausgerechnet von der Bundesebene aus, die zwar die allermeisten Gesetze macht, aber die allerwenigsten davon selbst umsetzt. Eine effizientere, digitalere, schnellere Bürokratie: das kann Berlin vielleicht noch beim Beschaffen von Kriegsgerät durchsetzen, aber bei der Baugenehmigung bis zum Steuerbescheid geht das nicht ohne die Länder und Kommunen.

Deshalb hat Olaf Scholz aus dem Deutschlandtempo jetzt einen Deutschlandpakt gemacht, einen Appell an die Ministerpräsidenten von Kiel bis München also, doch bitte mitzutun beim schrammenfreien Joggingprogramm für die Republik. Opposition und Regierungsparteien reagierten mit den üblichen Ref lexen des föderalen Systems: Sie spielten den Ball zurück ins gegnerische Feld und attackierten wiederum den Bund für bisherige Untätigkeit.

Viele Bürger werden dem zustimmen, was Scholz am Mittwoch im Bundestag sagte: "In der Zeit, in der wir die Verlängerung einer einzigen U-Bahn-Linie oder ein Hochhaus planen, werden in manchen Ländern in Asien oder in Amerika ganze Schnellzug-Linien und neue Stadtteile gebaut", klagte er. "Die Bürgerinnen und Bürger sind diesen Stillstand leid. Und ich bin es auch."

Die Frage ist allerdings, ob die von Scholz zitierten Bürger – ebenso wie vorgeblich der Kanzler selbst – wirklich nur willenlose Opfer abstrakter Zustände sind. Oder ob sie nicht mit ihren eigenen Wünschen und Ansprüchen die gegenwärtige Blockade herbeigeführt haben. Und ob der viel beklagte Paragraphendschungel auch deshalb so wucherte, weil alles andere bei Wahlen von der Bevölkerung abgestraft worden wäre.

Die Hindernisse, auf die die Politik regelmäßig stößt, haben ihre Wurzeln in zwei sehr deutschen Vorlieben: dem Streben nach Gerechtigkeit für jeden noch so komplizierten Sonderfall und dem Wunsch, möglichst jedes Risiko entweder von vornherein auszuschließen oder zumindest im Nachhinein irgendjemanden verantwortlich zu machen, der eine Vorschrift übertreten hat.

So sieht es zum Beispiel der Krefelder Unternehmer Lutz Goebel. Er sitzt dem Normenkontrollrat vor, der im Auftrag der Bundesregierung Vorschläge für den Bürokratieabbau machen soll. Als Beispiel für das Streben nach Gerechtigkeit im Einzelfall nennt er die Grundrente. "Einen Anspruch darauf hat nur, wer nicht über Kapitalerträge verfügt. Nun ist es sehr selten, dass jemand geringe Alterseinkünfte hat und zugleich hohe Zinsen und Dividenden bekommt", sagt er. "Wir konnten nachweisen: Der Aufwand, um das abzuchecken, ist achtmal so groß wie die mögliche Größenordnung des Missbrauchs." Prüfen will es der Staat trotzdem – auch aus Angst vor dem öffentlichen Aufschrei, wenn dann doch ein Vermögender die Sozialleistung bezieht.

Am allerdeutlichsten zeigt sich das am Steuerrecht. Von den Plänen für ein System mit drei Steuersätzen ohne Ausnahme, die Angela Merkel und ihr Schatten- Finanzminister Paul Kirchhof im Wahlkampf 2005 propagierten, ist keine Rede mehr. Auch der heutige CDU-Vorsitzende Friedrich Merz ist längst von jener Steuererklärung auf dem Bierdeckel ab-Modell ersetzt werden. Das ließ sich nicht durchhalten, weil bis dahin kein Hauseigentümer weiß, ob es in seiner Straße einen Fernwärmeanschluss geben wird. Statt die Sache aber einfach zu verschieben, kam ein ganzes Konvolut an Ausnahmeregeln hinzu. Niemand sollte eine "unbillige Härte" erleiden, wie es in der Sprache der Juristen heißt. Ausgerechnet die Entbürokratisierer von der FDP sorgten dafür, dass die Sache noch bürokratischer wurde.

Um zu verstehen, was das bedeutet, muss man sich den fertigen Gesetzestext zu Gemüte führen. Dort steht zum Beispiel in einem einzigen, unendlich komplizierten Satz: "Der Betreiber einer mit einem f lüssigen oder gasförmigen Brennstoff beschickten Heizungsanlage, die nach Ablauf des 31. Dezember 2023 und vor Ablauf des 30. Juni 2026 im Fall des Absatzes 8 Satz 1 oder vor Ablauf des 30. Juni 2028 im Fall des Absatzes 8 Satz 2 oder vor Ablauf von einem Monat nach der Bekanntgabe der Entscheidung nach Absatz 8 Satz 3 eingebaut wird und die nicht die Anforderungen des Absatzes 1 erfüllt, hat sicherzustellen, dass ab dem 1. Januar 2029 mindestens 15 Prozent, ab dem 1. Januar 2035 mindestens 30 Prozent und ab dem 1. Januar 2040 mindestens 60 Prozent der mit der Anlage bereitgestellten Wärme aus Biomasse oder grünem oder blauem Wasserstoff einschließlich daraus hergestellter Derivate erzeugt wird."

Die Vorherrschaft der Juristen macht es noch schlimmer. Sie bilden in Verwaltung und Parlamenten zumeist die größte Berufsgruppe. Auch das Verfassungsgericht in Karlsruhe hat durch sein Beharren auf Gerechtigkeit im Einzelfall viele Dinge komplizierter gemacht – das derzeitige Grundsteuer-Chaos etwa geht auf seine Intervention zurück. Das hat auch historische Gründe: Das alte Preußen war früh ein Rechtsstaat und spät eine Demokratie, die Folgen spürt man bis heute im Alltag.

Dabei ist Bürokratie an sich nichts Schlechtes, im Gegenteil: Nur eine Vergerückt, die er vor zwanzig Jahren ins Spiel gebracht hatte. Noch nicht mal von einer leicht zu bedienenden Steuer-App wie in manchen anderen Ländern ist die Rede. Zu unangenehm wäre der Aufschrei, der beim Wegfall jeder einzelnen Vergünstigung entstehen würde – nicht nur von Politikern oder großen Wirtschaftsverbänden, sondern auch von jedem Einzelnen. Früher glaubten viele, von Steuervorteilen und den früher verbreiteten Abschreibungsmodellen könnten nur Besserverdienende profitieren. Heute entdeckten angesichts der Kirchhof- Pläne auch andere Leute ihre Betroffenheit: Steuerfreie Nacht- und Sonntagszuschläge für Krankenpf leger oder Schichtarbeiterinnen würden einem radikal vereinfachten Steuersystem zum Beispiel ebenso zum Opfer fallen wie die Pendlerpauschale oder womöglich gar die ermäßigte Mehrwertsteuer auf Lebensmittel.

Das deutsche Steuerrecht werde "immer komplizierter", klagte der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble schon vor fast einem Jahrzehnt in der F.A.S. "Aber dafür gibt es Gründe: Wir als Bürger verlangen in einer immer komplizierteren Welt nach Gesetzen, die jeden Einzelfall abdecken. Das ist bei Lebensmittelgesetzen oder Lärmschutzregeln nicht anders als im Steuerrecht. Auf Ansprüche folgen Klagen, dann wieder eine neue Rechtsprechung." Bei anderer Gelegenheit regte er an, "mal vier Jahre lang gar kein Steuergesetz zu machen", um die Vorschriften wenigstens nicht noch komplizierter zu machen. Hinzu kommt: Wer in anderen Ländern bei der Steuer sparen will, der verschweigt meist Einnahmen. In Deutschland erfindet er Ausgaben, was die Sache wegen der vielen Belege ungleich komplizierter macht.

Der Wunsch, jedem Einzelfall gerecht zu werden, verunstaltete zuletzt auch das Heizungsgesetz. Am Anfang schien die Sache klar zu sein: Geht nach dem 1. Januar 2024 eine fossile Heizung kaputt, muss sie durch ein klimafreundliches waltung, die sich formal an Recht und Gesetz orientiert, kann den Willen des demokratischen Souveräns in die Praxis umsetzen. Schlimm wird es nur, wenn die Regeln selbst am Ende unpraktikabel erscheinen. Und neben dem Gerechtigkeitsstreben der Deutschen gibt es noch einen Treiber: das große Sicherheitsbedürfnis. Oder genauer: Das Unvermögen, Zufälle oder Schicksalsschläge zu akzeptieren, und der dringende Wunsch, deshalb immer einen Schuldigen auszumachen, und sei es nur eine fehlende Vorschrift.

Für Deutschlands bekanntesten Provinzbürgermeister, den Tübinger Rathauschef Boris Palmer, ist das ein Lieblingsthema. Vor allem auf den Brandschutz hat er es abgesehen. "Wenn sich Oberbürgermeister treffen, zum Beispiel bei Versammlungen des Städtetags, hat jeder zum Brandschutz eine absurde Geschichte beizutragen", berichtete Palmer schon vor einigen Jahren. Die Furcht vor Feuer zähle "zu den besonders intensiven Urängsten des Menschen". Deshalb versucht hier der Staat, angetrieben von der Psychologie seiner Bürger, jedes noch so kleine Risiko auszuschließen – während in anderen, weniger traumatischen Bereichen wie dem Sport weitaus größere Gefahren als vollkommen akzeptabel gelten.

Eines von Palmers Lieblingsbeispielen ist die Renovierung einer historischen Schule in seiner Stadt. Reichte bisher ein geräumiges Treppenhaus in der Mitte des nicht allzu großen Gebäudes völlig aus, so wurden auf einmal zusätzliche Fluchttreppen auf beiden Seiten nötig. Das Ergebnis: "Verlust von acht Klassenzimmern in bester Lage, Mehrkosten von einer Million Euro." In Deutschland sterben nach Palmers Angaben meist weniger als drei Menschen pro Jahr durch Brände in öffentlichen Gebäuden, trotzdem werde dem Problem weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt als etwa den Verkehrstoten durch hohe Geschwindigkeit auf der Autobahn.

Der finanzielle Aufwand summiert sich bundesweit zu Milliardenbeträgen. Auch die verzögerte Inbetriebnahme des neuen Berliner Flughafens hatte vor allem mit den immer schärferen Brandschutzvorschriften zu tun. Ein Verwaltungsbeamter im Landratsamt von Königs Wusterhausen wollte am Ende die Verantwortung nicht tragen und verweigerte für die Inbetriebnahme die Unterschrift.

Bürokratie-Kontrolleur Goebel beobachtet, wie sich diese Risikoscheu auf die Behörden überträgt. "Der Verwaltungsbeamte, der einen Fehler macht, wird zur Rechenschaft gezogen, ob von seinem Vorgesetzten oder vor Gericht. Deshalb verlangt er nach immer mehr Regulierung oder nach dem dritten Gutachten, wenn er Ermessen ausüben muss", sagt Goebel. "Bei uns im Unternehmen haben wir dagegen keine solche Fehleraversion, sondern eine positive Fehlerkultur. Wir sagen: Übernimm Verantwortung, entscheide selbst. Und wenn Fehler passieren, fragen wir: Was machen wir in Zukunft besser?" Das gebe es beim Staat viel zu wenig.

Deshalb ist es am Ende weniger entscheidend, was Politiker wie die 16 deutschen Ministerpräsidenten zur Effizienzinitiative des Bundeskanzlers sagen. Viel wichtiger ist, ob die Bevölkerung als Ganzes auch mal eine kleine Ungerechtigkeit hinnimmt oder ein winziges Risiko toleriert. Tun sie das, verfestigen die Deutschen selbst jenen Stillstand, den sie nach den Worten des Bundeskanzlers so leid sind.

Die Bürger verlangen Gesetze, die jedem Einzelfall gerecht werden. Hat jemand einen Nachteil, folgen Klagen und Urteile, die alles noch komplizierter machen.
Weil Menschen eine Urangst vor dem Feuer haben, wird der Brandschutz haarklein geregelt. Beim Sport hingegen nimmt man die Risiken leichtfertig hin.

Wirtschaftspolitik

Handelsblatt vom 11.09.2023, S. 4-5

G20

Westen formt neue Allianzen

Europa und Amerika punkten beim G20-Gipfel mit einer Infrastrukturinitiative. Auch die Weltbank soll reformiert werden.

Ein Netz aus Häfen und Schienen, Pipelines für grünen Wasserstoff und neue leistungsfähige Datenverbindungen: Mit einer weitreichenden Infrastrukturinitiative wollen die USA, Europa, Indien, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate einen neuen Handelskorridor nach Indien schaffen. "Das ist nichts anderes als historisch", sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei der Vorstellung des Projektes am Rande des G20-Gipfels in Neu-Delhi. Der Handel zwischen Europa und Indien – der aktuell wachstumsstärksten G20-Nation – werde sich durch das Vorhaben um 40 Prozent beschleunigen, schwärmte von der Leyen.

Mit dem ehrgeizigen Infrastrukturplan signalisiert der Westen neue wirtschaftliche und geopolitische Stärke gegenüber China. Während die Volksrepublik angesichts konjunktureller Probleme die Ausgaben für seine sogenannte Seidenstraßen-Initiative zurückschrauben muss, gehen Europa und Amerika in die Offensive. Und nicht nur beim Thema Infrastruktur.

Gemeinsam mit ihren Verbündeten konnten sie bei dem Gipfeltreffen der größten Industrie- und Schwellenländer (G20) auch bei anderen Themen wie der Reform multilateraler Entwicklungsbanken Punkte machen, um Chinas Einfluss in der Welt zu schwächen.

Auch sah sich China gezwungen, seinen Widerstand gegen mehrere Absätze zum Ukrainekrieg in der gemeinsamen Abschlusserklärung aufzugeben, nachdem sich zuvor alle anderen G20-Mitglieder mit Ausnahme Russlands auf entsprechende Formulierungen geeinigt hatten. Nach China knickte dann auch die Regierung in Moskau ein. Zudem stemmte sich die Führung in Peking nach Angaben aus Verhandlungskreisen gegen die Übernahme der G20-Präsidentschaft durch die USA im Jahr 2026. Auch damit hatte China jedoch keinen Erfolg.

Kanzler Scholz: "Neues Miteinander"

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte nach dem Gipfel, in Neu-Delhi habe es "ein neues Miteinander" des Westens mit den aufstrebenden Staaten Asiens und Afrikas gegeben. Das Treffen in Neu-Delhi sei ein "Gipfel der Entscheidungen" gewesen, wie die Beschlüsse zur Ukraine, zur Klimapolitik und zur Reform der internationalen Finanzarchitektur zeigten. Der Westen profitierte auf dem Gipfel auch von der Abwesenheit von Chinas Staatschef Xi Jinping, der nicht nach Neu-Delhi angereist war. Vertreten ließ er sich von Premierminister Li Qiang, der sich in entscheidenden Fragen nicht durchsetzen konnte. Für Ärger dürfte in Peking auch der Besuch von US-Präsident Joe Biden in Vietnam im Anschluss an den Gipfel sorgen. Er verkündete dort eine eine neue "strategische Partnerschaft" mit Chinas südlichem Nachbarn.

Die Regierung in Washington sieht sich nach dem G20-Treffen im Aufwind – auch durch den geplanten neuen Handelskorridor zwischen Europa und Indien. Laut der Vereinbarung der beteiligten Länder soll das Projekt eine neue Eisenbahnlinie umfassen, "die nach ihrer Fertigstellung ein zuverlässiges und kosteneffizientes grenzüberschreitendes Schiff-Schiene-Transitnetz bieten wird".

Sie soll bestehende See- und Straßenverkehrswege zwischen Europa und Indien ergänzen. Die Handelsroute soll vom indischen Subkontinent durch die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Jordanien und Israel bis nach Europa führen.

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu lobte das Schiffs- und Zugprojekt und sprach von der "Verwirklichung eines jahrelangen Traums", in dessen Zentrum sein Land stehen werde. Das Projekt werde "das Gesicht des Nahen Ostens und Israels verändern und Auswirkungen auf die ganze Welt haben", versprach er.

Die USA erklärten ihre Beteiligung an dem Vorhaben nach Worten von Bidens Nationalem Sicherheitsberater Jake Sullivan mit der Vision "weitreichender Investitionen" als Zeichen einer "effektiven amerikanischen Führung" – und der Bereitschaft, andere Nationen als Partner zu akzeptieren. Es gehe auch darum, Länder im Nahen Osten zusammenzubringen und die Region als wirtschaftliche Drehscheibe zu etablieren, anstatt als "Quelle von Herausforderungen, Konflikten oder Krisen".

Dass man mit dem Plan in direkte Konkurrenz zu China und seiner Seidenstraßeninitiative gehe, mit der Peking rund um den Globus Infrastrukturprojekte finanziert, bestreitet die Regierung in Washington zwar. Diplomaten anderer Länder sprechen hingegen klar von einer Antwort auf Chinas Schritte.

Wie viel das Projekt genau kosten soll und bis wann die Fertigstellung geplant ist, ließen die beteiligten Länder noch offen. Geplant ist jedoch, sich in den kommenden zwei Monaten über weitere Details zu verständigen. Fest geplant ist, dass neben der neuen Bahnstrecke Kabel für die Stromversorgung und die digitale Vernetzung der beteiligten Länder verlegt werden sollen. Zusätzlich sollen neue Leitungen den Export von sauberem Wasserstoff ermöglichen. Besonders Indien wittert großes Potenzial bei der Produktion von Wasserstoff mithilfe der riesigen Solarkraftwerke in dem Land. Die Regierung in Neu-Delhi will für den Aufbau der Wasserstoffindustrie zwei Milliarden Dollar an Subventionen bereitstellen und sieht Europa als zentralen Zielmarkt.

Gelder für den Handelskorridor sollen unter anderem aus der EU-Initiative Global Gateway kommen. Ziel der Initiative ist es, mit einem Volumen von bis zu 300 Milliarden Euro Schwellen- und Entwicklungsländern bei der Finanzierung von Infrastrukturvorhaben ein Gegenangebot zu China zu machen.

China hat mit seiner vor zehn Jahren gestarteten Seidenstraßeninitiative mehr als eine Billion US-Dollar investiert und sich damit auch politischen Einfluss in Ländern des globalen Südens gesichert. In den vergangenen Jahren wuchs bei den Empfängerländern jedoch die Skepsis angesichts der Angst, in eine chinesische Schuldenfalle zu geraten.

Reform der Weltbank

Auch die Reformen multilateraler Entwicklungsbanken, die auf dem G20-Gipfel beschlossen wurden, sollen Chinas Einfluss in der Welt schwächen. In Neu-Delhi verpflichteten sich die G20-Staaten, die multilateralen Entwicklungsbanken zu stärken."Wir müssen das Mandat multilateraler Entwicklungsbanken erweitern", sagte Indiens Premier Namendara Modi. diese Veränderungen werden als entscheidend angesehen, um ärmeren Ländern bei der Umstellung von fossilen Brennstoffen auf grüne Technologien zu helfen.

Deutschland etwa stellt der Weltbank dazu 305 Millionen Euro in Form von Hybridkapital zur Verfügung. Diese spezielle Anleiheklasse ermögliche es der Weltbank ihr Ausleihevolumen für Staaten deutlich zu erhöhen, wodurch die effektiven zusätzlichen Mittel in den Milliarden-Dollar-Bereich gingen, sagte Finanzminister Christian Lindner (FDP).

Bidens Sicherheitsberater Sullivan sprach im Vorfeld des Gipfels ganz offen von einer "positiven Alternative" zu einer "viel undurchsichtigeren oder zwanghaften Methode der Entwicklungsfinanzierung, die China anbietet".

Dass die USA ihr Ziel, China zu schwächen, so offen kommunizieren, gefällt allerdings nicht allen westlichen G20-Staaten. Man könne das Ziel ja verfolgen, sollte es vielleicht besser nicht so offen aussprechen, hieß es in Verhandlungskreisen. Viele Entwicklungs- und Schwellenländer wollten alles, nur nicht sich für eine Seite, den Westen oder China, entscheiden, "Der Westen wacht nun endlich auf, so wird es vielmehr im globalen Süden gesehen", sagte ein Verhandler.

Der Westen geht auch in die Offensive, weil er sieht, dass die Verhandlungen in zentralen Politikfeldern mit China immer komplizierter werden. "Es ist viel schwieriger geworden, in der Klimapolitik noch zu zählbaren Ergebnissen zu kommen", sagt ein Unterhändler.

So bremst China gemeinsam mit Russland und Saudi-Arabien in allen internationalen Foren den Ausbau der erneuerbaren Energien. In den G20-Verhandlungen nahm China zwischenzeitlich die Klimapolitik in Geiselhaft, um in anderen Politikbereichen etwas herauszuverhandeln, etwa Erleichterungen beim US-Chipembargo gegen Peking.

Sorge Chinas vor Isolation

Auch Kanzler Scholz vermied es, eine Gegnerschaft zwischen China und dem Westen zu benennen. Auf dem Gipfel sei es nicht um Machtinteressen, sondern um die Frage von Kooperation in einer "multipolaren Welt" gegangen. Bei dem Treffen seien "viele, viele Dinge vorangebracht worden, die wichtig sind für die weitere Entwicklung der Welt", sagte Scholz.China sorgt sich aber offenbar darum, weiter isoliert zu werden. Bei einem Treffen mit Kommissionspräsidentin von der Leyen am Rande des Gipfels warb Chinas Ministerpräsident Li Qiang um Kooperation – und um einen EU-China-Gipfel noch in diesem Jahr. Er hoffe, dass die EU fairen Wettbewerb aufrechterhalte und damit eine "diskriminierungsfreie Umgebung" für chinesische Firmen bereitstelle, sagte Li laut chinesischen Staatsmedien. Für Europa berge die Volksrepublik Chancen und keine Risiken, versprach er.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.09.2023, S. 19

Superstar im Wartestand

Vor dem G-20-Gipfel in Neu Delhi ruft der Westen Indien zur kommenden Wirtschaftsmacht aus – schon wieder. Wird der indische Traum nun endlich wahr?

Indiens reichster Mann steht vor einer Kamera und platzt fast vor Stolz. Mukesh Ambani hat seine rot-weiß karierte Glückskrawatte angelegt, die er zu großen Anlässen trägt. Sein Vermögen wird auf rund 90 Milliarden Dollar geschätzt, was ihn selbst reicher macht als jeden reichsten Chinesen.

In China rasen Hochgeschwindigkeitszüge mit 350 Kilometern die Stunde durchs Land. In Indien tuckert der schnellste Zug noch nicht mal halb so schnell dahin. Trotzdem hat Ambani eine der alten Lokomotiven auf den Bildschirm in seinem Rücken projizieren lassen. Scharen junger Pendler strömen auf dem Bild der morgendlichen Arbeit in einer der Millionenstädte des Landes entgegen. "Das ist das neue Indien", sagt Mukesh Ambani. "Dieses Indien ist unaufhaltsam. Es holt keine Luft. Dieses Indien gibt nicht auf."

Dieser Auftritt, vor wenigen Tagen, ist kein Wahlkampfauftritt. Mushek Ambani will nach den Parlamentswahlen nicht Regierungschef sein. Das will Amtsinhaber Narendra Modi, sein Freund. Ambanis Lobrede auf sein Land leitet die Bekanntgabe der Jahresbilanz seines Konzerns ein, Reliance Industries, das größte Privatunternehmen im Land. Seinen Umsatz macht es vor allem mit der Gewinnung und Weiterverarbeitung von Öl zu Benzin und Chemikalien für Kunststoffe. Doch auch das Geschäft als Indiens größter Einzelhändler wächst rasant; die Telekommunikationssparte und das Geschäft mit Film und Fernsehen entwickeln sich ebenfalls ordentlich.

In Indiens Wirtschaftshauptstadt Mumbai hat sich Ambani auf dem Gelände eines früheren Waisenhauses ein 170 Meter hohes Wohnhaus gebaut, das zwischen 1 und 2 Milliarden Dollar gekostet haben soll und den Namen "Antilia" trägt. Die Garage für 168 Autos ist in Indien ebenso legendär wie jener Raum im Haus, der künstliche Schneeflocken produziert. Für die Feier von Indiens Unabhängigkeitstag am 15. August wählte Ambani jedoch eine Neuerwerbung im Ausland: Das über 1000 Jahre alte Anwesen Stoke Park nahe London, das einst der englischen Krone gehört hat und auf dessen Golfplatz einst im Film James Bond gegen den Schurken Goldfinger spielte.

Nachdem er Stoke Park 2021 für 57 Millionen Pfund übernommen hatte, schmiss Ambani die Mitglieder des Golfklubs raus und nutzt die alten Gemäuer laut Berichten für sich und seine Familie als Ferienhaus. Daheim in Indien, wo Ministerpräsident Modi regelmäßig dazu aufruft, das Trauma der kolonialen Vergangenheit unter britischer Fremdherrschaft abzustreifen, kommen derlei Machtdemonstrationen gut an. Da mögen Ökonomen wie Ashoka Mody von der Princeton University auch kritisieren, Indiens starkes Wirtschaftswachstum komme beim Großteil der Gesellschaft nicht an und mache nur Reiche wie Ambani noch reicher: Wenn der Milliardär auf dem Bildschirm die gelungene Landung einer indischen Sonde auf der Südseite des Monds zeigt und ruft, die Möglichkeiten des Landes in der Zukunft seien "grenzenlos", dann trifft er damit den Nerv des Volks, dessen Bevölkerungszahl seit diesem Frühjahr größer ist als die Chinas.

Wenn am Wochenende die Regierungschefs der G-20-Länder in Neu Delhi über die miese Lage der Weltwirtschaft reden, sei nur eines sicher, versprechen Unternehmer und Regierungschef: Indien starte jetzt durch. In den Monaten von April bis Juni wuchs die indische Wirtschaft im Jahresvergleich um 7,8 Prozent, noch mal mehr als angenommen und klar stärker als im vorangegangenen Quartal. Für das Gesamtjahr sagt die Zentralbank ein Wachstum von 6,5 Prozent voraus, 1,5 Punkte mehr als Chinas Zielvorgabe, die angesichts der wankenden chinesischen Immobilienindustrie wohl gar nicht mehr zu erreichen ist. Bis 2075 werde das Reich der Mitte trotzdem die größte Wirtschaft der Welt sein, prognostiziert die Bank Goldman Sachs. Doch dahinter folge in kurzem Abstand Indien – vor Japan, Deutschland und gar den USA.

Das demokratische Indien als Alternative zu Chinas Diktatur – für westliche Länder wie Amerika und Deutschland ist das ein Traum. "Indien ist in den letzten Monaten zu einem wirklichen Partner geworden", sagt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Der deutsche Autohersteller Volkswagen lässt zwar keine Gelegenheit aus, seiner "zweiten Heimat China" ewige Treue zu schwören. Wer im Wolfsburger Konzern nach Indien versetzt werde, der habe etwas "verbrochen", witzeln VW-Manager in Schanghai gern.

Es folgen Geschichten von verdorbenen Mägen und Leichen auf der Straße vor dem Hotel. Selbst in Indien heißt es aus dem Konzern, man verkaufe auf dem vermeintlichen Hoffnungsmarkt so viel wie in einer einzigen Filiale in Peking. D och Peking. D och das mag früher so gewesen sein. Inzwischen sind die goldenen Zeiten in China vorbei. Vor der Pandemie hat der VW-Konzern in seinem größten Markt deutlich mehr als 4 Millionen Autos im Jahr ausgeliefert. Im vergangenen Jahr waren es 1 Million weniger, Tendenz stark fallend. In Indien setzte VW im Jahr 2022 hingegen über 1 Million Fahrzeuge ab, was einer Steigerung innerhalb eines Jahres um 85 Prozent entspricht. Weil ein Chinese im Schnitt immer noch fünfmal so viel wie ein Inder verdient, verkaufen die Wolfsburger auf dem indischen Markt vor allem die günstigeren Fahrzeuge der tschechischen Tochtermarke Škoda.

Doch das mit Erfolg. Seit der VW-Konzern nicht mehr seine Ladenhüter in Indien verramscht, sondern mit dem Škoda Kushaq ein günstiges, aber edel wirkendes und aufs Land maßgeschneidertes Modell anbietet (Doppelkupplungsgetriebe für schnelles Ausweichen, extrastabiles Fahrwerk für Schlaglöcher), läuft der Absatz, auch wenn das fünfsitzige SUV mittlerweile eine Auffrischung braucht. Schließlich sind die indischen Kunden anspruchsvoll.

Trotzdem erinnert die Frage, ob Indiens wirtschaftlicher Aufstieg unaufhaltsam ist, an die einstige Debatte, ob Europa scheitert, wenn Griechenland wieder mit der Drachme zahlt: Je nachdem, welcher Ökonom angerufen wird, fällt die Antwort anders aus. Ashoka Mody aus Princeton bleibt kritisch, wenn es um sein Heimatland geht, das er vor vierzig Jahren verlassen hat. Den Indien-Hype findet er so hohl wie die alle paar Jahre wechselnden Werbeslogans der Regierung in Delhi. Ob "unglaubliches Indien" oder "Make in India": Demokratie und Wirtschaft seien "kaputt", findet Mody. Gegen vier von zehn Parlamentsabgeordneten sei zum Zeitpunkt ihrer Wahl ein Strafverfahren gelaufen, hält er seinem Land vor. Acht von zehn seien Millionäre. Und fast alle betrachteten kostspielige Wahlkämpfe als Investition mit dem Versprechen einer ansehnlichen Rendite.

Dass nicht das hohe Wirtschaftswachstum entscheidend ist, sondern die viel zu geringe Anzahl an Arbeitsplätzen und das Scheitern des Staats, Bildungsund Gesundheitssysteme zu bauen, die diesen Namen verdienen, kritisiert auch der frühere indische Zentralbankchef Raghuram Rajan, wenngleich mit weniger drastischen Worten. In der Sache aber klang auch Milliardär Charlie Munger nicht viel anders, der vor sechs Jahren über Indien höhnte, er würde lieber "mit einem Haufen Chinesen zusammenarbeiten". Der 99 Jahre alte Partner von Investmentlegende Warren Buffet, seit vielen Jahren großer Fan der Kommunistischen Partei Chinas, fand bei einer Konferenz in Los Angeles nicht viel Gutes an dem Land, aus dem sich sein Arbeitgeber Berkshire Hathaway zurückgezogen hatte. Korruption, Nachwirkungen des Kastensystems, Überbevölkerung – alles zum Davonlaufen. Indien habe bei seinem Abschied vom britischen Empire die "schlimmsten Aspekte der Demokratie" übernommen: "Alles stoppt, sobald ein Haufen Idioten schreit." Die Zweifel an Indien sind so alt wie der Staat selbst.

Als F.A.Z. -Redakteur Klaus Natorp 1973 sich vor Ort an der Seite Erhard Epplers einen Eindruck machte, schloss er sich der Skepsis des SPD-Entwicklungshilfeministers an, der so viele Milliarden Mark nach Indien überwies wie in kein anderes Land: "Datenverarbeitung in Madras, menschenunwürdige Existenzen in Kalkutta – was ist das für ein Land?"

Tatsächlich wurde Indien bereits in den Achtzigerjahren für Reformen bejubelt, die die Optimisten an das Amerika unter Ronald Reagan erinnerten. Arm blieb Indien trotzdem, während die Wirtschaft in China durch die Decke ging. Verglichen mit dem Nachbarn ist die Zahl der deutschen Unternehmen in der Volksrepublik heute dreimal so hoch. K lar hoch. K lar ist aber auch: Im einst so dynamischen Reich der Mitte steht inzwischen ebenfalls alles still, wenn der stärkste Arm im Land so will. Es sei gar nicht so sehr der von Xi Jinping befohlene monatelange Lockdown des Wirtschaftszentrums Schanghai im Frühjahr 2022 gewesen, der ihnen die Augen über die chinesische Diktatur geöffnet habe, sagen amerikanische Manager heute. Der Schock kam im Herbst, als Zehntausende infizierte Arbeiter in Angst vor der gefürchtetem Null-Covid-Ideologie des Staatsführers flohen und die weltgrößte Fabrik zur Fertigung des iPhone wochenlang lahmlegten. Weil es keine Alternative zu dem Standort gab, sei Apples Führung angesichts von sechs Millionen nicht produzierter iPhones "ausgeflippt", berichtet die Zeitung "Nikkei Asia" unter Verweis auf Konzernmanager.

Der Vorfall habe klar gemacht, dass man sich auf das China unter Alleinherrscher Xi nicht mehr verlassen könne. In den kommenden Jahren solle mindestens ein Fünftel der Produktion stattdessen aus Indien kommen, doppelt so viel wie derzeit. Dort wartet ein Heer junger Arbeitskräfte, während Chinas Gesellschaft altert und schrumpft. Nicht nur wegen Indiens demographischer Dividende glaubt etwa Columbia-Ökonom Arvind Panagariya an sein Heimatland. Zwar werde Indien nur Erfolg haben, wenn dort mehr Frauen arbeiteten – derzeit ist es nur jede vierte, ein lächerlich geringer Anteil im Vergleich zu China. Doch die Möglichkeiten, mit dem Einsatz neuer Technologien die Produktivität zu steigern, seien gewaltig.

Um in Indien Mensch und Maschine für die Produktion des neuen iPhone zu trainieren, habe es früher ein Jahr länger als in China gedauert, zitiert "Nikkei Asia" einen Manager von Apple. Im vergangenen Jahr sei der Rückstand dann auf einen Monat zusammengeschmolzen. Das Aufholziel für das laufende Jahr: zehn Tage.

Welt am Sonntag, Bundesausgabe vom 10.09.2023, S. 2

Wirtschaftliche Vernunft zu lange vernachlässigt

Bundesfinanzminister Christian Lindner ruft zu einer Besinnung auf die Stärken der freien Marktwirtschaft auf. Selbst Unternehmen setzten heute zu reflexhaft auf den Staat

Thorsten Jungholdt, Jacques Schuster und Karsten Seibel

Im Garten hinter seinem Amtssitz treffen wir Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), der am Vormittag seine große Haushaltsrede im Bundestag gehalten hat. Trotz hartnäckiger Rufe von allen Seiten lehnt Lindner einen Industriestrompreis nach wie vor ab.

WELT AM SONNTAG:

Herr Lindner, der Kern der Demokratie ist der Streit um das bessere Argument und die Mehrheit. Sie haben das bei der Regierungsklausur in Meseberg als "Hämmern und Bohren" umschrieben. Der Kanzler sieht im Streit einen Grund für die erodierende Zustimmung zur Ampel-Regierung. Ein Dilemma?

Christian Lindner:

Die Demokratie lebt von Unterschieden, sonst wäre die freie Wahl sinnlos. Ich werde den Grünen gewiss keinen Vorwurf daraus machen, wenn sie ihre Orientierung an Gleichheit und einem lenkenden Staat auch in der Regierung vertreten. Dafür wurden sie gewählt. Umgekehrt steht die FDP für das Vertrauen auf Eigenverantwortung und Freiheit und darauf, dass zunächst einmal im gesellschaftlichen Miteinander eine Lösung gefunden werden sollte, bevor der Staat gerufen wird. Bislang ist es gut gelungen, am Ende zu einem für das Land tragfähigen Kompromiss zu finden.

Die frühere Kanzlerin Angela Merkel war eine Meisterin der Streitvermeidung, hat daraus das Konzept der asymmetrischen Demobilisierung gezimmert - und ist so dreimal wiedergewählt worden. Sind die Deutschen des Streits entwöhnt?

Damals wurde gesagt, der Stil von Frau Merkel mache die Ränder stark. Ich rate uns, reale Probleme zu lösen. Viele Menschen teilen meinen Eindruck, dass in Deutschland zu lange wirtschaftliche Vernunft und das technisch Machbare vernachlässigt wurden, weil man sich Wunschdenken hingegeben oder Probleme mit Geld zugeschüttet hat. Der ursprüngliche Entwurf des Heizungsgesetzes wurde dafür leider zu einem weiteren Symbol dessen, wie es Jahre lief. Da musste eine Kehrtwende erreicht werden. Das gute Anliegen, die Wärmeversorgung langfristig klimaneutral zu gestalten, erreichen wir jetzt, ohne dass die Bürgerinnen Bürger Angst um ihr Eigentum haben müssen.

Hat sich der Streit um das Heizungsgesetz aus Ihrer Sicht gelohnt?

Ja. Wir sollten aus dem Prozess aber lernen. Das Gesetz selbst ist nun praxistauglich. Jetzt gibt es eine Verbindung zur kommunalen Wärmeplanung. Es ist offen für alle Technologien, verzichtet auf Verbote und hat einen realistischen Zeitplan.

Eine Studie des Rheingold-Instituts stellt eine "Resignation gegenüber der Politik und unseren Zukunftsmöglichkeiten" fest, die "unser nationales Zusammenleben bedroht". Befördern Sie mit einer Regierung, die nach Wahrnehmung der Bürger zerstritten ist, den Aufschwung der AfD?

Mein Zugang ist, weniger über die AfD, dafür mehr über unsere gemeinsamen Aufgaben zu reden. Gerade bei der Kontrolle von Zuwanderung nach Deutschland haben wir Fortschritte gemacht. Wir dürfen hier aber nicht nachlassen, denn die Zahlen sind so nicht dauerhaft durchhaltbar. Mehr sichere Herkunftsländer, wirksame Abschiebung, Schutz der EU-Außengrenze, Asylverfahren vom Ausland aus und so weiter. Was rechtlich möglich ist, um irreguläre Migration zu unterbinden, sollte politisch eingeleitet werden. Die Menschen haben zuweilen das Gefühl, dass dieser Staat zwar über ausreichend Finanzmittel verfügt, aber in vielen Bereichen seine Aufgaben nicht so erfüllt, wie man das erwartet. Wir sind nun dabei, das zu korrigieren. Das geschieht zuweilen geräuschvoll, aber es geschieht.

Eines dieser Geräusche erzeugt die Diskussion über den Industriestrompreis zur Dämpfung der Energiekosten. SPD und Grüne möchten ihn einführen, die FDP nicht. Wie lässt sich das zusammenführen?

Ich bin nicht davon überzeugt, für einige wenige Konzerne den Strompreis auf Kosten aller Steuerzahler zu subventionieren. Zumal dann nur bestimmte Energieverbraucher weiter günstig Energie nutzen und damit das knappe Angebot für andere potenziell verteuern. Wir brauchen eine Lösung ohne Wettbewerbsverzerrung. Wir müssen schnell neue Energie-Erzeugungskapazitäten schaffen und dürfen nicht ideologisch auf bestehende Kraftwerke verzichten. Das immer weitere Vorziehen von Terminen etwa bei der Kohle würde Preis und Versorgungssicherheit gefährden, wenn es nicht rechtzeitig und verlässlich Ersatz gibt.

Das bringt aber keine schnelle Hilfe für ernergieintensive Unternehmen.

Ich hätte mir diese Debatte gewünscht, als 30 Terrawattstunden günstiger und klimafreundlicher Strom aus Kernenergie gegen unseren Rat abgeschaltet wurden. Das Problem leugne ich nicht. Aber eine Lösung, die Schulden auf die Gemeinheit abwälzt und den Wettbewerb zu Lasten des Mittelstands verzerrt, ist keine. Wir müssen erleichtern, dass Großverbraucher Strompartnerschaften mit Erzeugern schließen. Das ist ein marktwirtschaftlicher Zugang. Auch die Erleichterung von Investitionen, die Energieeffizienz erhöhen, ist sinnvoll. Eine staatliche Subventionierung von Betriebskosten sehe ich aber kritisch. Beim Preis selbst können wir allerdings über das nachdenken, was Energie politisch verteuert.

Was schlagen Sie konkret vor?

Der sogenannte Spitzenausgleich, durch den Großverbrauchern die Stromsteuer erstattet wird, läuft als sogenannte klimaschädliche Subvention aus. Der Bundestag könnte beraten, ihn ein weiteres Jahr zu verlängern, wenn man woanders Mittel zur Gegenfinanzierung findet. Mir behagt in der Diskussion die Grundrichtung ansonsten nicht. Auf eine staatliche Intervention - die politische Verknappung durch Abschalten von Kohle und Kernenergie auch durch CDU-Regierungen - folgt zur Abfederung der negativen Nebenwirkung die nächste staatliche Intervention. Diese Abfolge führt weg von einem marktwirtschaftlich verfassten Gemeinwesen.

Schon 2010 warnte der damalige FDPV orsitzende Westerwelle vor "anstrengungslosem Wohlstand". Was hätte er zu der anstehenden Erhöhung des Bürgergelds gesagt?

Dass sie sich aus der Entwicklung der Preise ergibt und das Existenzminimum gesichert sein muss. Aber dasselbe ergibt sich für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Konkret werden wir den Grundfreibetrag um 180 Euro auf 11.784 Euro erhöhen und den Kinderfreibetrag um 228 Euro auf 6612 Euro. Das ist eine weitere steuerliche Entlastung der Menschen um fast zwei Milliarden Euro. Das ist rechtlich zwingend, aber auch moralisch geboten.

Die arbeitende Mitte darf generell nicht den Eindruck gewinnen, dass sie mit ihren Interessen und Wünsche vergessen wird. Mehr noch, wichtig ist für mich, dass wir Menschen aus dem Sozialstaat in den Arbeitsmarkt bringen. Ich bin besorgt wegen der Sozialquote, die wir inzwischen im Bundeshaushalt haben. Wir haben zu viele Menschen, die arbeiten könnten, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht arbeiten. Das beginnt bei mangelnden Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder, geht über Qualifikationsfragen und endet bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen. Wir werden aber nüchtern prüfen, ob der Abstand zwischen Sozialtransfers und Arbeitseinkommen groß genug ist. Da geht es nicht um den Populismus, den ich teils aus der Opposition höre, sondern um Fakten und Fairness. Eine Untersuchung der Regierung kommt und wird auf Konsequenzen beraten.

Sie haben gesagt, dass Sie nicht mit einer so starken Erhöhung des Bürgergeldes im nächsten Jahr gerechnet hatten. Warum nicht?

Die Lohn- und Preisentwicklung ist eine andere als noch im Frühjahr amtlich prognostiziert.

Welche Auswirkungen hat die Bürgergelderhöhung für die Kosten der Kindergrundsicherung?

Dazu liegen noch keine Zahlen vor. Allerdings ist zu bedenken, dass es keine generellen Leistungsausweitungen durch die Kindergrundsicherung gibt. Gegenüber dem Status quo ist der Vorteil nicht der höhere Sozialtransfer, sondern zum Beispiel die unbürokratische Auszahlung dessen, worauf arbeitende Familien ein Recht haben, es aber nicht wissen.

Sie sprachen in Zusammenhang mit der Kindergrundsicherung von der letzten "größeren Sozialreform, die noch in den Haushaltsplan passt". Für was genau ist kein Geld mehr da?

Ich höre viele Ideen, was alles noch passieren könnte. Deshalb habe ich vorsorglich gesagt: Im Bundeshaushalt sind keine Reserven für strukturelle und dauerhafte Mehrausgaben.

Wird die Regierung das schon lange angekündigte Rentenpaket deshalb nicht mehr vorlegen?

Im Gegenteil, das Rentenpaket hat ja einen anderen Charakter. Auf der einen Seite schreiben wir zwar das Rentenniveau dauerhaft bei 48 Prozent fest. Auf der anderen Seite führen wir das Generationenkapital ein, einen staatlichen Fonds, der Geld an den Kapitalmärkten anlegt, um die Beitragsentwicklung ab den Dreißigerjahren zu dämpfen, also die Beschäftigten zu entlasten und letztlich auch den Bundeshaushalt.

Aber eine dauerhafte Haltelinie bei 48 Prozent wird angesichts der steigenden Rentnerzahlen in den kommenden Jahren wahrscheinlich sehr teuer für den Staat.

Richtig ist, dass wir davon ausgehen, dass Fachkräfteeinwanderung, Aktivierung von nicht arbeitenden Menschen, Überwindung ungewollter Teilzeit und die Attraktivierung längeren Arbeitens für Ältere gelingen. Diese Annahmen für die Entwicklung des Arbeitsmarktes und die Performance des Generationenkapitals werden wir zu definierten Zeitpunkten prüfen.

Die Haltelinie wird also nicht dauerhaft bei 48 Prozent liegen?

Die Haltelinie soll dauerhaft dort liegen. Dafür müssen wir aber auch dauerhafte Voraussetzungen erwirtschaften.

Nach wie vielen Jahren halten Sie eine Überprüfung für notwendig?

Warten Sie den Gesetzentwurf bitte ab. Mir ist auch dabei wichtig, dass wir der Goldstandard der Staatsfinanzierung bleiben. Trotz der hohen Kreditaufnahme in den vergangenen Krisenjahren genießt Deutschland weiterhin hohes Vertrauen bei Ratingagenturen und Investoren. Das dürfen wir nicht gefährden. Das AAA-Rating hat schließlich positive Auswirkung nicht nur auf die Zinsausgaben des Bundes, sondern bis hinunter auf einzelne Gemeinden und ihre Finanzierungsbedingungen.

Sie wollen sparen, SPD und Grüne drängen eher auf milliardenschwere Investitionen.

Weniger Schulden zu machen ist kein persönliches Anliegen von mir, sondern es ist ein Gebot ökonomischer Klugheit. Wir müssen die Inflation bekämpfen und dürfen nicht immer neue Schulden anhäufen. Das würde die Inflation anheizen. Dennoch gibt es kein Defizit an öffentlichen Investitionen. Im nächsten Jahr stehen insgesamt 112 Milliarden Euro bereit. Das ist ein absoluter Rekordwert.

Dennoch wird es aus Ihrer Sicht nicht ohne Einschnitte gehen. Wann erklären Sie den Bürgern, dass der Staat sie nicht dauerhaft vor allen finanziellen Risiken des Lebens bewahren kann?

Das sage ich jeden Tag. Wir müssen unterscheiden zwischen großen Lebensrisiken, die wir solidarisch absichern, und den anderen Lebenssituationen, die Eigenverantwortung erfordern. Allerdings beziehe ich das auch auf die Wirtschaft. Strukturbrüche wie bei Corona muss der Staat verhindern, aber Unternehmerinnen und Unternehmer können nicht vor einem schlechten Geschäftsjahr durch den Steuerzahler geschützt werden. Ich habe Respekt und keinerlei Neid bei unternehmerischem Profit, aber der Erfolg sollte nicht in der Nähe des Staatshaushaltes gesucht werden, sondern im Wettbewerb im Markt. Durch die Corona-Pandemie und den Energiepreisschock können wir uns keine Mentalitätsveränderung auf Dauer erlauben.

Denken Sie bei den Unternehmern eher an Halbleiterhersteller oder Restaurantbetreiber?

Die Milliardensubventionen für die Halbleiterbranche hat schon eine Vorgängerregierung eingeleitet.

Wie sieht es mit der Forderung von Gastronomen aus, den Mehrwertsteuersatz auf Speisen über das Jahresende hinaus bei sieben Prozent zu belassen?

Ich persönlich habe Sympathie. Aber darüber wird der Haushaltsgesetzgeber, also das Parlament, im Lichte der Steuerschätzung im November entscheiden.

Wie passt das zu dem Vorhergesagten, dass Unternehmer nicht immer nach dem Staat rufen können, wenn ihr Geschäft schlecht läuft?

Hier geht es eher um die Preise, die die Gäste zahlen würden.

In dem Fall wohl eher Wählerinnen und Wählern.

Für die Wählerinnen und Wähler ist es entscheidend, dass die Balance insgesamt stimmt. Ich bin überzeugt, dass die Menschen sich nicht durch einzelne Maßnahmen beeindrucken lassen.

Apropos, wird die Bundesregierung jemals das Klimageld auszahlen, das den Menschen als Ausgleich für den steigenden CO2-Preis auf Treibstoff versprochen wurde?

Ja. Voraussichtlich im kommenden Jahr gibt es die technische Möglichkeit. Der Gedanke während der Koalitionsverhandlungen war, in dieser Wahlperiode den Mechanismus zu schaffen und in der kommenden mit einer Auszahlung zu beginnen.

Das wäre erst 2026.

Ob es früher als 2026 oder später ist, kann ich gegenwärtig nicht sagen. Dazu gibt es noch keine abgestimmte Planung der Bundesregierung.

Kommen wir zum zweitgrößten Posten Ihres Haushalts nach Arbeit und Soziales, dem der Verteidigung. In der Koalition gibt es Streit, ob die Nato-Quote von zwei Prozent tatsächlich Jahr für Jahr erreicht werden muss. Können Sie das überhaupt ohne immer neue kreative Ansätze wie die Hinzurechnung von milliardenschweren Zinsausgaben auf Sondervermögen und Bundesschulden?

Ja, die Zwei-Prozent-Quote erreichen wir. Wir müssen in Sicherheit und Freiheit investieren, indem wir die Wehrhaftigkeit unseres Staates verbessern. Dabei berücksichtigt das Verteidigungsministerium wie alle unsere Verbündeten alle Ausgaben, die in einem Kontext dazu stehen. Fragen Sie gern dort nach.

Christian Lindner im spätsommerlichen Hof des Bundesfinanzministeriums in Berlin
Martin U. K. Lengemann/WELT

Energiepolitik

Handelsblatt vom 11.09.2023, S. 9

ENERGIEKOSTEN

Lindner geht beim Strompreis auf Industrie zu

Eine wichtige Steuerermäßigung für energieintensive Betriebe könnte bleiben – wenn die Gegenfinanzierung gesichert ist.

In der Debatte über einen staatlich subventionierten Industriestrompreis schlägt Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) als Alternative eine Verlängerung des Spitzenausgleichs bei der Stromsteuer vor. Ursprünglich sollte die Option für Unternehmen des produzierenden Gewerbes, sich ihre Stromsteuer auf Antrag erstatten zu lassen, Ende 2023 auslaufen. Lindner ist nun unter einer Bedingung bereit, an dieser Subvention festzuhalten. Der Bundestag könne beraten, den Spitzenausgleich "ein weiteres Jahr zu verlängern, wenn man woanders Mittel zur Gegenfinanzierung findet", sagte der FDP-Politiker der "Welt am Sonntag".

Von dem Spitzenausgleich profitieren derzeit 9000 Unternehmen aus energieintensiven Branchen. Sie bekommen bis zu 90 Prozent der Energie- und Stromsteuer zurück. Im Haushaltsentwurf für 2024, den das Bundeskabinett Anfang Juli beschlossen hat, ist der Posten in Höhe von 1,7 Milliarden Euro nicht mehr enthalten.

Eine Beibehaltung der Subvention käme der Wirtschaft sehr entgegen. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hatte jüngst mit Blick auf einer möglichen Abschaffung des Spitzenausgleichs vor einer Verzehnfachung der Stromsteuerlast für die betroffenen Betriebe gewarnt. "Eine solche Steuererhöhung in einer Zeit, in der viele Industrieunternehmen in Deutschland existenziell unter Druck stehen, ist höchst problematisch und gefährdet den Erhalt unserer Wertschöpfungsketten", sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm. Gerade in der aktuellen Krise müsse der Industriestandort Deutschland gestärkt werden, statt Unternehmen Belastungen aufzubürden.

Innerhalb der Ampelkoalition sind SPD und Grüne allerdings wenig geneigt, den Spitzenausgleich noch einmal zu verlängern. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hatte ohnehin angesichts der hohen Energiekosten für eine Übergangsphase einen staatlich subventionierten Industriestrompreis vorgeschlagen – das wollen parteiübergreifend auch alle Bundesländer, ebenso die SPD-Fraktion sowie Gewerkschaften und viele Wirtschaftsverbände. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich bisher skeptisch gezeigt. Lindner ist dagegen.

SPD und Grüne beharren auf Industriestrompreis

"Ich bin nicht davon überzeugt, für einige wenige Konzerne den Strompreis auf Kosten von allen Steuerzahlern zu subventionieren", sagte der Minister. "Eine Lösung, die Schulden auf die Gemeinheit abwälzt und den Wettbewerb zulasten des Mittelstands verzerrt, ist keine." Bestimmte Verbraucher könnten dann weiter günstig Energie nutzen und würden damit das knappe Angebot für andere potenziell verteuern, gab Lindner zu bedenken. Der SPD-Wirtschaftspolitiker Sebastian Roloff ist indes davon überzeugt, dass ein Industriestrompreis dabei helfe, "dass energieintensive Industrien, die in der Wertschöpfungskette von unschätzbarer Relevanz sind, nicht zumachen müssen und damit den gesamten Industriestandort gefährden würden". Das könne der Spitzenausgleich nicht leisten, der an ganz anderer Stelle greife.

Ähnlich sieht es der Grünen-Fraktionsvize Andreas Audretsch. "Der Brückenstrompreis ist zielgenau und sorgt dafür, dass Energieeffizienz und der Ausbau erneuerbarer Energien weiter vorangetrieben werden", sagte Audretsch dem Handelsblatt. Die Senkung der Stromsteuer hält Audretsch dagegen nicht nur für sehr teuer. Die Maßnahme habe auch "keinen Anreiz zum Umstieg auf Erneuerbare". Nötig sei nun ein "Weg, der funktioniert, Zukunft schafft und bezahlbar ist". Das Geld für einen subventionierten Industriestrompreis könne aus dem sogenannten Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) kommen.

Wirtschaftsweise will hohe Energiepreise dauerhaft senken

Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm lehnt indes wie Lindner einen vergünstigten Stromtarif für die Industrie ab. Grimm warb dafür, die hohen Energiepreise dauerhaft zu senken, etwa indem die Stromsteuer auf das europäische Minimum reduziert werde. "Das würde alle entlasten und Elektrifizierung als einen ganz wesentlichen Baustein der Energiewende attraktiver machen", sagte Grimm dem Handelsblatt. "Diesen Weg sollte die Bundesregierung gehen." Der Spitzenausgleich bei der Stromsteuer für energieintensive Unternehmen könne dann verlängert werden, bis die Stromsteuer für alle abgeschafft sei. "Auch bei weiteren Abgaben und Umlagen kann man etwas tun", fügte die Ökonomin hinzu. "Es macht in einer Energiekrise keinen Sinn, dass der Staat den Strompreis durch hohe staatlich induzierte Komponenten zusätzlich hoch hält."

Schon jetzt haben Abgaben und Umlagen die Stromkosten zwischen Januar und Juli dieses Jahres um 2,86 Cent je Kilowattstunde erhöht. Das sind elf Prozent des gesamten Strompreises, wie eine Analyse des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) zeigt.

ZITATE FAKTEN MEINUNGEN

Die Senkung der Stromsteuer ist nicht zielgerichtet, sehr teuer und hat keinen Anreiz zum Umstieg auf Erneuerbare. Andreas Audretsch Grünen-Fraktionsvize

Handelsblatt vom 11.09.2023, S. 8

GEG

So fördert der Staat künftig Wärmepumpe und Co.

Der Bundestag hat das Heizungsgesetz beschlossen. Zudem wurden die Bedingungen präzisiert, zu denen Bürger ab 2024 ihre Heizungen austauschen können. Ein Überblick.

Der Bundestag hat die Reform des Gebäudeenergiegesetzes (GEG) am Freitagnachmittag beschlossen. In namentlicher Abstimmung votierten 399 Abgeordnete für die Reform, die schrittweise für mehr Klimaschutz im Gebäudesektor sorgen soll. 275 Parlamentarier stimmten mit Nein, fünf enthielten sich. Damit haben sich die Abgeordneten gleichzeitig auch für Eckpunkte zur Förderung des Heizungstauschs ausgesprochen. Die neuen Bedingungen der Bundesförderung für effiziente Gebäude (BEG) sollen ebenso wie das GEG am 1. Januar 2024 in Kraft treten, hieß es am Freitag in Kreisen des grün-geführten Bundeswirtschaftsministeriums. Anpassungen würden derzeit innerhalb der Bundesregierung abgestimmt.

Dazu gehört auch die Möglichkeit, künftig einen zinsverbilligten Kredit bei der staatlichen Förderbank KfW aufnehmen zu können. Das gilt aber nicht für alle: Wer ein bestimmtes zu versteuerndes Jahreseinkommen überschreitet, kann diese Option nicht nutzen. Besserverdiener gehen trotzdem nicht ganz leer aus. Bis die Änderungen in Kraft treten, gelten die aktuellen Bedingungen beim Tausch einer Heizung weiter. Folgende Förderoptionen sind im GEG vorgesehen:

Erstens:

Für den Heizungstausch wird es direkte Zuschüsse zu den Investitionskosten geben. Hier gibt es drei Bausteine:

Zweitens:

Boni und Grundförderung sind addierbar, allerdings auf 70 Prozent begrenzt.

Drittens:

Die Grundförderung kann nicht auf die Mieter umgelegt werden. Hierdurch soll der Anstieg der Mieten durch energetische Sanierungen begrenzt werden.

Viertens:

Die künftigen, maximal förderfähigen Investitionskosten für den Heizungstausch werden auf 30.000 Euro für ein Einfamilienhaus begrenzt. Das gilt auch für die erste Wohneinheit in einem Mehrparteienhaus. Das heißt: Der maximal erhältliche Investitionskostenzuschuss beträgt – bei einem Fördersatz von 70 Prozent – 21.000 Euro. Das wäre weniger als heute. Derzeit ist noch eine Förderung von bis zu 24.000 Euro möglich. Das liegt daran, dass die Bemessungsgrundlage bislang noch höher ist.

Bei Mehrfamilienhäusern betragen nach bisherigem Stand die maximal förderfähigen Investitionskosten 30.000 Euro für die erste Wohneinheit, für die zweite bis sechste Wohneinheit je 10.000 Euro und ab der siebten Wohneinheit jeweils 3000 Euro. Der Wohn- und Immobilienwirtschaft geht das nicht weit genug.

Fünftens:

Zusätzlich zur Förderung des Heizungstauschs können wie bisher Zuschüsse für weitere Effizienzmaßnahmen beantragt werden, etwa für die Dämmung des Gebäudes oder für die Optimierung einer Heizung. Die Fördersätze betragen hier weiterhin 15 Prozent. Dazu kommt ein Bonus von fünf Prozent, wenn ein individueller Sanierungsfahrplan vorliegt. Die maximal förderfähigen Investitionskosten für Effizienzmaßnahmen liegen bei 60.000 Euro pro Wohneinheit mit Sanierungsfahrplan oder 30.000 Euro ohne Sanierungsfahrplan.

Sechstens:

Die Höchstgrenze der förderfähigen Kosten für den Heizungstausch und andere Effizienzmaßnahmen können miteinander verbunden werden. In der Summe gilt dann eine Höchstgrenze der förderfähigen Kosten in Höhe von 90.000 Euro, wenn sowohl die Heizung ausgetauscht wird als auch andere Effizienzmaßnahmen erfolgen. Das wäre eine Verbesserung zur aktuellen Förderung. Derzeit betragen die maximal förderfähigen Investitionskosten 60.000 Euro für alle Maßnahmen am Gebäude innerhalb eines Kalenderjahres.

Siebtens:

Haushalte mit einem zu versteuernden Einkommen von bis zu 90.000 Euro können für den Heizungsaustausch und weitere Effizienzmaßnahmen einen zinsverbilligten Kredit bei der KfW in Anspruch nehmen. Die genauen Konditionen müssen allerdings noch festgelegt werden. Alternativ kann auch weiterhin die Möglichkeit der steuerlichen Förderung in Anspruch genommen werden.

ZITATE FAKTEN MEINUNGEN 21.000 Euro beträgt der maximal erhältliche Investitionskostenzuschuss künftig – weniger als heute. Quelle: Förderkonzept 15 Prozent betragen die Fördersätze für Effizienzmaßnahmen wie die Dämmung des Gebäudes. Quelle: Förderkonzept

Welt Bundesausgabe, Die vom 11.09.2023, S. 7

Strompreise runter - nicht nur für die Industrie

Von Kai Wegner

Unternehmen und Verbraucher in Deutschland ächzen unter den hohen Strompreisen. Diese sind jedoch nicht nur das Ergebnis globaler Entwicklungen und Folge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Vielmehr sind sie auch das Produkt eine verfehlten nationalen Energie- und Steuerpolitik. Die deutschen Energiesteuern zählen zu den höchsten in der EU.

Vor diesem Hintergrund wirken die Klagen in der Bundesregierung über zu hohe Energiepreise und die Diskussionen über staatliche Subventionen wie energiepolitische Schizophrenie - nach dem Motto: Erst erhöht der Staat den Strompreis durch Verknappung und Besteuerung, um anschließend einzelne Unternehmen durch Subventionen zu entlasten. Derartige Flickschusterei und Subventionen nach Gutsherrenprinzip werden keines unserer Probleme in Deutschland dauerhaft lösen. Erforderlich ist vielmehr eine schnelle und umfassende Senkung der Strompreise, von denen alle profitieren - die Industrie, die vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen und selbstverständlich auch die Verbraucherinnen und Verbraucher.

Subventionen, die nur den großen energieintensiven Industrieunternehmen zugute kommen, würden zu kurz greifen. Das einzige Instrument, das schnell, effektiv und in die Breite wirken kann, ist, die Verbrauchssteuern auf Strom abzusenken. Konkret müssen wir die Mehrwert- und auch die Stromsteuer umgehend auf das europarechtlich maximal mögliche Maß senken. Damit hätten wir auf einen Schlag in Deutschland einen Strompreis, der in etwa dem europäischen Durchschnittspreis entspricht. Anders als jede Form von staatlich garantierten und subventionierten Preisen wäre dieser Weg auch beihilferechtlich unproblematisch und folglich nicht mit dem Risiko behaftet, dass die Europäische Kommission ein Veto dagegen einlegt.

In Ergänzung dazu - und in einem zweiten Schritt - könnten mit einem staatlich garantierten Brückenstrompreis gezielt und zeitlich befristet energieintensive Unternehmen weiter entlastet werden, um ihnen die notwendige Zeit für den anstehenden Transformationsprozess zu geben. Dieses Instrument darf jedoch nicht auf große Konzerne beschränkt bleiben, sondern muss allen energieintensiven Unternehmen zugute kommen. Also auch den Pharmaunternehmen oder den Bäckereien.

Mittel- und langfristig ist es außerdem besonders wichtig, die verfügbare Strommenge durch einen Ausbau der Energieproduktion schnellstmöglich zu erhöhen. Auch hier muss die Bundesregierung endlich liefern und ihren lautstarken Ankündigungen Taten folgen lassen. Wir benötigen in Deutschland dringend die lang angekündigte und längst fällige Reform des Strommarktes. Es ist absurd, dass sich der Strompreis an der Börse automatisch an dem jeweils teuersten Energieträger orientiert - mit der Folge, dass der Strompreis künstlich hoch gehalten wird und die Produzenten von günstigem Strom enorme Gewinne zulasten der Verbraucher einstreichen. Die bisherigen Vorschläge der EU-Kommission zur Reform des Strommarktes sind in diesem Punkt völlig unzureichend.

Die Lösungen liegen auf dem Tisch und ließen sich - etwa in Form eines optimierten Preisbildungsmechanismus an der Strombörse - schnell und ohne viel Aufwand umsetzen. Umso mehr ist die Bundesregierung jetzt in der Pflicht, sich im Rat aktiv für eine Reform einzusetzen, die diese Bezeichnung auch verdient.

Nur ein Dreiklang von dauerhaften Strompreissenkungen, temporären Hilfen in Form von staatlichen Preisgarantien sowie einer schnellstmöglichen Ausweitung der verfügbaren Strommengen wird den Unternehmen in Deutschland eine Perspektive geben. Nur dann werden die Unternehmen dauerhaft bleiben, hier investieren und die Arbeitsplätze sichern. Wer jetzt nicht schnell, entschlossen und mutig handelt, wird zum Totengräber des Industriestandorts Deutschland.

Kai Wegner (CDU) ist seit April 2023 Regierender Bürgermeister von Berlin.

Arbeitsmarkt

Spiegel, Der vom 09.09.2023, S. 60-65

Zuwanderung

Bloß nicht Deutschland!

Um ihren Wohlstand zu bewahren, braucht die Bundesrepublik mehr Fachkräfte aus dem Ausland. Doch es kommen zu wenige. Und wer hier ist, will oft schnell wieder fort. Hochqualifizierte berichten, was sie an diesem Land stört.

Über die Attraktivität Deutschlands macht sich Pflegeheimbetreiber Kaspar Pfister keine großen Illusionen. Er ließ auf den Philippinen nach Fachkräften suchen. Frage man in Manila 100 angehende Pflegeexperten, ob sie sich ein Leben im Ausland vorstellen könnten, erzählt er, höben 90 die Hand. Frage man, wer nach Deutschland wolle, bleibe eine einzige Hand oben.

Deutsche Manager und Minister reisen derzeit weit, um nach Fachkräften zu fahnden. Der Chef der Münchner Verkehrsgesellschaft hofft auf Busfahrer aus Afrika. Kliniken fahnden in Vietnam. Und Arbeitsminister Hubertus Heil, SPD, warb in Brasilien, Ghana und Indien um Fachkräfte für Germany.

Ihr Erfolg ist überschaubar. Nur ein Beispiel: Trotz aller Anstrengung konnte die Bundesagentur für Arbeit im vergangenen Jahr gerade einmal 656 Pflegekräfte aus dem Ausland vermitteln. Nötig wären Zehntausende. Und die Pflege ist nur eine Branche von vielen, die vergebens auf Experten aus der ganzen Welt hoffen.

Minister Heil gibt sich inzwischen realistisch: "Deutschland ist ein attraktives Land", sagt er, um dann mit den Problemen rauszurücken: "Aber es steht im Wettbewerb mit vielen anderen Ländern, in denen es eine längere Tradition der Zuwanderung gibt oder eine Sprache gesprochen wird, die weiter verbreitet ist." Im Klartext: Deutschland empfängt eher weniger freundlich. Und: Deutsch lernen zu müssen ist die größte Hürde.

Die Bundesrepublik, so viel ist gewiss, ist kein Traumland für internationale Fachkräfte. Wenn sie die Wahl haben, machen sie um Deutschland einen Bogen.

Weil sie die Mundart nicht verstehen.

Weil das Warten auf ein Visum sie verschreckt.

Weil die Miete in deutschen Metropolen hoch und der Empfang durch die neuen Nachbarn kühl sein könnte.

Das ist es jedenfalls, was Rückkehrer erzählen, wenn sie in Spanien, Indien oder auf den Philippinen von ihrer Zeit in Deutschland berichten – was Deutschlands Ruf im Ausland formt. Und das Problem quasi verdoppelt. Schlimm genug, dass es vergleichsweise wenig Experten ins Land zieht. Schlimmer ist, dass jährlich mehr als eine Million Menschen es wieder verlassen.

Die Zahl belegt, dass Deutschland nicht überall als offen und lebenswert empfunden wird. Vor allem aber sagt sie viel aus über die wirtschaftliche Zukunft.

Weil Deutschland altert, gehen dem Arbeitsmarkt bis zum Jahr 2035 an die sieben Millionen potenzielle Erwerbstätige verloren. Damit könnte der Wohlstand schrumpfen. Um das Land am Laufen zu halten und es zu verändern, um Windräder zu bauen und Wärmepumpen anzuschließen, um neue Medikamente zu entwickeln und Chipfabriken zu betreiben, um Kinder zu fördern und Senioren zu pflegen, braucht es: Menschen.

Vor wenigen Wochen sprach die Vorsitzende des Wirtschafts-Sachverständigenrates der Bundesregierung im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" eine schlichte Wahrheit aus. Um den Arbeitskräftemangel auszugleichen, seien pro Jahr rund 1,5 Millionen qualifizierte Zuwanderer nötig, rechnete Ökonomin Monika Schnitzer vor. Eine simple Kalkulation: Subtrahiert man von dieser Zahl jene mehr als eine Million Menschen, die jährlich wieder abwandern, bleiben rund 400.000 zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Ausland. So viele also, wie es braucht, um die demografische Lücke schließen.

Der Sachverständigenrat teilt diese Sicht einhellig. Nur die Opposition im Bundestag hält die 1,5-Millionen-Marke für unerhört. Vergangenen Montag warnte CDU-Chef Friedrich Merz im Bierzelt in Gillamoos davor, "die Grenzen unserer Aufnahmefähigkeit" zu überschreiten. Es klang wie der Ruf aus einer längst vergangenen Zeit. Einer, in der man es für klug hielt, auch für qualifizierte Zuwanderer die Hürden hoch zu halten.

Schon lange plädieren Ökonominnen und Ökonomen für ein Umdenken. "Wir sind als Einwanderungsland nicht so attraktiv, wie wir uns das einbilden", sagt Martin Werding, Sozialexperte von der Universität Bochum und wie Schnitzer einer der fünf Wirtschaftsweisen. Im Jahr 2021 zog es gerade einmal 40.000 Fachkräfte aus Nicht-EU-Ländern wegen der Arbeit nach Deutschland. Die Analyse lautet: Die Bundesrepublik ist zwar ein Sehnsuchtsort für Geflüchtete mit unterschiedlichen Qualifikationen – aber kein Traumland für Fachkräfte mit Arbeitsvisum.

Bislang spielt die Arbeitsmigration in Deutschland eine marginale Rolle. Nur fünf Prozent aller Zugewanderten kommen, weil sie eine Erwerbstätigkeit aufnehmen werden. In klassischen Einwanderungsländern wie Kanada, Australien oder Neuseeland liegt dieser Anteil zwischen 40 und 50 Prozent. Umso tragischer ist es, wenn jene Fachkräfte Deutschland wieder verlassen. "Wenn wir die Quote der Auswanderer halbieren würden, hätten wir einen guten Teil des Fachkräfteproblems gelöst", sagte Andrea Nahles, als sie vor einem Jahr ihr Amt als Chefin der Bundesagentur für Arbeit (BA) antrat.

Die BA lässt untersuchen, warum so viele zurück in ihre Heimat gehen. Das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung an der Universität Tübingen hat dazu 1885 Personen in einer nicht repräsentativen Vorstudie befragt. EU-Bürger hatten demnach meistens eher nur kurze Aufenthalte geplant, die Freizügigkeit macht auch spontane Migrationsabenteuer möglich. Für länger planten vor allem die Menschen aus Drittstaaten.

Ein Viertel der Befragten verließ Deutschland aus beruflichen Gründen wieder, weil etwa Berufsabschlüsse nicht anerkannt wurden. Fast der Hälfte fiel es nach der Ankunft schwer, sich ohne Hilfe zurechtzufinden. Tatsächlich sind die bürokratischen Hemmnisse so hoch, dass selbst deutsche Heimkehrer sich schwertun, für ihre Kinder einen passenden Schulplatz zu organisieren.

Besonders bedenklich: 51 Prozent der Befragten gaben an, wegen ihrer ethnischen Herkunft oder aus anderen Gründen diskriminiert worden zu sein – auch in Behörden oder im Arbeitsleben. Einzelne Zuwanderer berichteten, dass ihnen wegen ihrer Nationalität der Zutritt zu Bars verweigert wurde. Vor allem in Ostdeutschland sei das der Fall gewesen. Das arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft erkennt inzwischen "Standortnachteile" für den Osten.

Es gäbe einiges zu tun.

Migranten in Deutschland fühlen sich alleingelassen, wie eine Studie der OECD zeigt. Befragt wurden Tausende Zuwanderer und solche, die es werden wollen. Kaum mehr als die Hälfte der Befragten bewertet das deutsche Migrationssystem positiv. Für fast 30 Prozent der Migrationswilligen ist es die erste Hürde, die deutschen Einreisebestimmungen zu verstehen. Für die Mehrheit bleibt eine wesentliche Barriere: die Sprache.

Wer eine Arbeitserlaubnis beantragen will und auf dem Amt mit den Worten "Wenn Sie in Deutschland leben, müssen Sie Deutsch sprechen" angeraunzt wird, wie es eine mexikanische Finanzmanagerin berichtet, der fühlt sich nur wenig willkommen.

Der SPIEGEL hat mit Fachkräften auf der ganzen Welt gesprochen, die von ihren Erfahrungen mit dem Standort D berichten. Einige von ihnen würden zurückkehren nach Deutschland – wenn sich etwas änderte.

Wirtschaftsexperten plädieren für eine einfache Botschaft: Nicht für jeden Job müsse gefordert werden, dass ausländische Fachkräfte Deutsch können. Man könne auch dafür sorgen, dass die Mitarbeiter der Ausländerbehörde Englisch sprechen.

In Wahrheit wird es bald so sein: Nicht die qualifizierten Zuwanderer müssen sich bewerben. Sondern Deutschland.

Finanzexpertin Patricia Salinas, 34, aus Mexiko zog 2019 für einen Job bei einem Kosmetikkonzern nach Hamburg. Jetzt lebt und arbeitet sie in Dubai.

"Von all den Städten, in denen ich schon gelebt habe, ist Hamburg die schönste. Die Alster und die vielen hübschen Viertel mit den kleinen Cafés finde ich wundervoll. Auch die deutsche Arbeitskultur gefällt mir, alle sprechen so offen und auf Augenhöhe miteinander. Trotzdem stand für mich nach vier Jahren fest: Ich muss weg.

Ich habe mich in Deutschland nie zu Hause gefühlt, war permanent im Überlebensmodus. Der Ärger mit meinen Nachbarn fing gleich nach meinem Einzug an. Mein kleiner Hund mache das Treppenhaus dreckig, hieß es. Ständig bekam ich deshalb Zettel vor die Tür gelegt. Einmal lag dort sogar Kot, "viele Grüße von deinem Hund", stand da. Dabei mache ich seine Hinterlassenschaften immer weg.

Angefreundet habe ich mich in Hamburg vor allem mit Expats. Meinen engsten Freunden ging es wie mir: Sie haben sich nie richtig eingelebt und sind weiter nach Brasilien, Mexiko, Südafrika, USA. Eine Freundin ist ein Jahr vor mir nach Dubai gezogen. "Nach einer Woche dort brauchst du meine Hilfe nicht mehr", hatte sie gesagt. Und das stimmt.

Ich kann selbst kaum glauben, wie einfach mir die Ankunft gemacht wurde. Visum, Einwohnerausweis, Bankkonto – in weniger als zwei Wochen sind alle Formalitäten erledigt. Für die Kontoeröffnung kam ein Bankmitarbeiter zu mir ins Büro, der Immobilienmakler hat mich für die Wohnungsbesichtigungen abgeholt und wieder zurückgefahren. Von der Post wurde ich freundlich gefragt, wann mir die Zustellung passen würde.

Jeder hier spricht Englisch. Wenn ich in Deutschland Probleme mit meinem Internetzugang hatte oder die Waschmaschine repariert werden musste, brauchte ich einen Dolmetscher. Mein Deutsch ist immer noch auf Anfängerniveau.

Drei Monate lang hatte ich versucht, einen Behördentermin zu bekommen, um eine Ausnahmeregelung für meine Blue Card zu beantragen. Mit ihr kann ich in der EU arbeiten. Ich hätte sie gern behalten. Der Plan war ursprünglich, dass ich in drei Jahren aus Dubai nach Hamburg zurückkehre.

Als ich persönlich im Amt erschien, um die Verlängerung zu beantragen und ich die Dame bat, langsam zu sprechen, schnauzte sie mich an: "Wenn Sie in Deutschland leben, müssen Sie Deutsch sprechen." Da fühlte ich mich sehr diskriminiert. Als Finanzchefin für Lateinamerika musste ich in Hamburg den ganzen Tag Spanisch, Portugiesisch und Englisch sprechen. Ich hatte keine Möglichkeit, mein Deutsch anzuwenden.

Die deutsche Blue Card wurde mir inzwischen ohne stichhaltige Argumente entzogen, aber ich will aus Dubai auch gar nicht mehr weg. Ob ich Essen bestelle oder meine Nägel lackiert haben will – ein Klick in der App, und schon kommt jemand. Die Kehrseite der Medaille ist, dass all diese Arbeitskräfte, die aus materieller Not hierherziehen, ein hartes Leben führen. Internationale Fachkräfte wie ich werden in Dubai verwöhnt."

Sozialarbeiterin Irene Calle Rosa, 34, aus Spanien scheiterte an der Anerkennung ihrer Ausbildung in Deutschland.

"Wir sind seit etwa sechs Jahren in Deutschland und würden hier gern bleiben. Trotzdem packe ich gerade unsere Umzugskisten. Es geht nicht anders. Eigentlich wollte ich in München längst als staatlich anerkannte Sozialpädagogin arbeiten. Aber trotz meiner Ausbildung und meiner jahrelangen Berufserfahrung darf ich diesen Beruf in Deutschland noch nicht ausüben.

Meinen Masterabschluss habe ich in Dänemark und Finnland gemacht, er wird von deutschen Behörden nur teilweise anerkannt. Ich kann das nachvollziehen, es gibt in Deutschland schon einige Besonderheiten, die man beachten muss: Recht, Verwaltung, Steuern, solche Sachen. Also habe ich ein Brückenseminar an einer deutschen Uni absolviert – und einen Sprachkurs habe ich auch gemacht. Aber jetzt fehlt mir noch ein Praktikum, das man nur in Vollzeit machen kann, und ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll.

Meine jüngste Tochter ist zehn Monate alt, ihre große Schwester ist viereinhalb. Mein Mann arbeitet in Vollzeit, wir brauchen einen Kita- und einen Krippenplatz für die Kinder. Aber die Betreuungssituation ist eine Katastrophe. Wir sind umgezogen, um endlich einen Kitaplatz für meine älteste Tochter zu finden. Jede Woche habe ich bei der Elternberatung angerufen, habe unzählige Mails an Kitas und Tagesmütter verschickt. Da ich keinen Job habe, stehe ich weit hinten auf der Warteliste – aber wie soll ich ohne Kinderbetreuung eine Arbeit finden? Vom Geld ganz zu schweigen: Mein Praktikumsgehalt würde kaum reichen, um eine Tagesmutter zu bezahlen.

Dazu kommen die hohen Mieten. Mein Mann arbeitet als Informatiker, er verdient ziemlich gut. Aber unsere Wohnung ist sehr teuer. Wir haben eine Staffelmiete, und obendrein hat unser Vermieter die Nebenkosten um 300 Euro erhöht. 2000 Euro im Monat sind für uns einfach zu viel.

Wir haben uns den Abschied nicht leicht gemacht. Ich mag München sehr. Meine Älteste kann vor unserer Haustür mit dem Fahrrad fahren. Und das Klima ist auch toll. Wir würden gern bleiben, aber jetzt ziehen wir nach Las Palmas. Dort sind die Mieten günstiger, und die Kinderbetreuung ist auch kein Problem.

Dass wir Deutschland verlassen, macht mich traurig. Aber ich will einfach nicht noch länger warten, bis ich endlich wieder arbeiten kann."

Krankenpfleger Henry Macharia Maina, 39, aus Kenia zog 2010 nach Mönchengladbach. Im August wanderte er in die USA aus.

"Entweder verlasse ich das Land oder den Job: Nach mehr als zehn Jahren als Pfleger in Deutschland habe ich dann keine anderen Optionen mehr für mich gesehen. Ich war ständig überarbeitet. An freien Tagen klingelte das Telefon, ob ich noch irgendwo einspringen könne. Und im Dienst wollten zu viele Menschen zu viel auf einmal von mir. Ich musste oft 20 Patienten gleichzeitig betreuen, nachts war ich schon mal mit 36 Patienten allein auf der Station. Hier in Connecticut bin ich maximal für 8 Patienten zuständig, das ist die gesetzliche Obergrenze.

Ich mag meinen Job. Aber als Pfleger in Deutschland ist man nicht nur für die Pflege verantwortlich, sondern ist gleichzeitig Servicekraft, Putzmann und Dokumentar für alles, was mit den Patienten passiert. Anerkennung gibt es keine. Hier in den USA ist das ganz anders. Und noch etwas: Wenn ich sage, dass ich von Beruf Krankenpfleger bin, sind die Leute beeindruckt. Ich verdiene jetzt das Dreifache und arbeite weniger: 36 Stunden statt 40 Stunden pro Woche.

Die Wertschätzung für meinen Beruf in den USA hängt damit zusammen, dass die Zugangsprüfung viel schwerer ist als in Deutschland. Drei Jahre lang habe ich mich darauf vorbereitet und viel Geld für Online-Weiterbildungskurse ausgegeben. Ich musste richtig viel lernen, zum Beispiel über Geburtshilfe. Da bewegen Pfleger sich auf dem Niveau eines Assistenzarztes.

Es gibt verschiedene Agenturen, die darauf spezialisiert sind, Pflegefachkräfte in die USA zu vermitteln – und die sich um alles kümmern. Um die Prüfung, die Green Card, den Umzug. An meine Agentur bin ich jetzt zwar für ein Jahr gebunden und muss jeden Monat einen kleinen Prozentsatz meines Gehalts abgeben, aber es lohnt sich. Ich bekam so viele Jobangebote aus allen möglichen US-Bundesstaaten! Entschieden habe ich mich für eine Klinik in Connecticut, weil mein Bruder hier in der Nähe lebt.

Vor allem: Hier achtet niemand auf meine Hautfarbe. In Mönchengladbach hatte ich das Gefühl, dass Afrikaner und Türken als Menschen zweiter Klasse gelten. Wenn ich als Zeitarbeiter in eine neue Klinik kam, gab es immer skeptische Blicke. Na, ob der das kann? Ich hatte den Eindruck, dass von mir mehr erwartet wurde als von anderen."

Social-Media-Managerin Dharti Patel, 29, aus Indien entschied sich für ein Leben in Kanada statt in Deutschland.

"Meine Partnerin Shubhalaxmi und ich kamen im August 2019 nach Kanada, wir sind im Großraum Toronto sehr glücklich. In unserer Heimat Indien mussten wir für unsere Beziehung kämpfen. Hier schaut uns niemand schräg an, wenn wir Hand in Hand durch die Straßen laufen, wir können zusammenwohnen, im Februar haben wir geheiratet.

Zuerst hatten wir ein bisschen Angst vor dem kanadischen Winter, deshalb haben wir uns auch über Deutschland informiert. Ein Auswanderungsberater sagte uns aber, das Land sei nur was für Ingenieure.

Wir wollten so schnell wie möglich raus aus Indien, daher war die Sprache ein wichtiger Punkt. Shubh und ich hatten zwar beide schon gearbeitet, wollten aber erst noch ein weiterführendes Studium im Ausland absolvieren, und um uns über Wasser zu halten, würden wir einen Nebenjob brauchen, das war uns klar. Ich weiß noch, wie ich mir ein Video ansah, in dem es hieß, man solle fließend Deutsch sprechen, um in einem Restaurant zu arbeiten. Das noch zu lernen, dafür hatten wir keine Zeit.

Und noch ein Unterschied ist mir aufgefallen: Kanada vermarktet sich viel stärker als Deutschland, wir kamen schneller an Infos, YouTube zum Beispiel ist voll mit Videos über das Einwanderungssystem. Auch mit Beratungsagenturen in Indien scheint die kanadische Regierung zusammenzuarbeiten, jedenfalls machen die ziemlich viel Werbung für das Land. Wenn Deutschland mehr ausländische Arbeitskräfte anziehen möchte, könnte es da ansetzen.

Nach Kanada einzuwandern war einfach. Wir haben erst zwei Jahre lang hier studiert und dann eine Arbeitserlaubnis für drei weitere Jahre bekommen, das sogenannte Post-Graduation Work Permit. Es ist bei Weitem nicht alles super hier, in vielen Bereichen ist es schwierig geworden, einen Job zu finden. Außerdem sind knapper Wohnraum und hohe Mieten ein riesiges Problem.

Trotzdem könnte ich mir aktuell nicht vorstellen, anderswo zu leben. In Kanada bin ich frei, ich kann mit der Person zusammen sein, die ich liebe, das hat für mich Priorität. Und die Winter sind auch nicht so schlimm wie gedacht. Im Gegenteil: Ich mag den Schnee."

Juraprofessor Thomas Krebs, 52, aus Deutschland bleibt lieber in Oxford, statt einem Ruf nach Leipzig zu folgen.

"Seit dem Brexit fühle ich mich in Großbritannien nicht mehr richtig willkommen. Über den Ruf der Uni Leipzig habe ich mich deshalb gefreut. Ich wollte zusammen mit meiner Frau Beatrice, die Rechtswissenschaft an der Uni Reading lehrt und sowohl deutsche als auch britische Juristin ist, den englischsprachigen Studiengang International Business Law aufbauen. Uns reizte die Vorstellung, noch mal etwas Neues zu starten.

Ich war davon ausgegangen, dass wir uns in Leipzig ein staatliches Gymnasium für unsere beiden Töchter aussuchen könnten. Aber nur ein einziger Schulleiter war bereit, mich persönlich zu treffen. Er teilte mir mit, dass es unwahrscheinlich sei, dass unsere Töchter eine gemeinsame Schule finden würden. Alle Leipziger Gymnasien seien hoffnungslos überfüllt, und nur die jüngere Tochter habe überhaupt einen Anspruch auf einen Platz, weil sie neu in der fünften Klasse starte. Die ältere habe nur dann eine Chance, wenn ich das Schulamt überzeugen könne, dass sie ein "Härtefall" sei.

Das Infoblatt des Landesamts für Schule und Bildung dazu ist so bürokratisch formuliert, dass selbst wir zwei Juristen mehrere Anläufe brauchten, um den Kern zu erfassen: In Sachsen müssen Schüler, die nach Abschluss der Klassen fünf bis neun wechseln wollen und bisher nicht an einer deutschen Regelschule waren, grundsätzlich eine Oberschule besuchen, eine Kombination von Haupt- und Realschule. Solche Oberschulen sind "besonders auf den Übergang in berufliche Bildungswege" ausgerichtet.

Das hatten wir nicht erwartet.

Selbst wenn das Schulamt den "Härtefall" anerkennt, muss nachgewiesen werden, dass die bisher besuchte Schule "den Anforderungen des sächsischen Gymnasiums entspricht" – und die Schülerin oder der Schüler muss fünf Aufnahmeprüfungen bestehen. Und zwar in Deutsch, Mathematik, Englisch und wahlweise in Biologie, Chemie oder Physik und in Geschichte oder Geografie mit einer Note von besser als 2,0.

Unsere älteste Tochter Victoria ist eine sehr gute Schülerin, das beweist das Zeugnis ihrer englischen Schule. Victoria war von uns allen diejenige, die auf gar keinen Fall umziehen wollte. Ausgerechnet sie sollte nun gezwungen werden, fünf Prüfungen auf Grundlage des sächsischen Lehrplans zu absolvieren? Das wollten wir nicht von ihr verlangen.

Die internationale Schule in Leipzig wäre für uns die einzige Alternative zu einem Gymnasium gewesen. Aber sie kostet pro Kind um die 10.000 Euro im Jahr, und die Uni Leipzig war nicht bereit, sich an den Schulgebühren auch nur anteilsweise zu beteiligen. Die Schulproblematik gab letztlich den Ausschlag: Ich habe den Ruf abgelehnt."

Datenjournalist Ufuk Olgun, 33, aus der Türkei fühlt sich in Deutschland nicht fair behandelt.

"Für mich gibt es viele Gründe, dass ich dieses Gespräch aus der Türkei und nicht in einem Café in Hamburg oder Berlin führe. Der Triftigste ist wohl, dass der Weg, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen – und sei es ein Touristenvisum –, mit viel Bürokratie verbunden ist. Für Menschen wie mich ist es attraktiver, im eigenen Land hart zu arbeiten. In Deutschland fühle ich mich nicht willkommen, noch immer nicht.

Ich sage das, obwohl ich top ausgebildet bin. Ich habe an der Boğaziçi-Universität in Istanbul meinen Bachelor gemacht. Sie ist eine der renommiertesten Universitäten der Türkei, auch international bekannt für ihre amerikanisch geprägte Lehre.

Istanbul ist eine europäische Stadt, doch in der EU wird selten gesehen, dass wir die gleichen Werte teilen. Das Label ›Recep Tayyip Erdoğan‹ tragen viele Türkinnen und Türken. Weil es leicht ist zu labeln. Nur weil ich Türke bin, soll ich AKP-Unterstützer sein? Ich habe diesen Mann nie gewählt. Dennoch habe ich das Stigma während meiner Studienreisen in Brüssel oder Berlin häufig gespürt. Mit meinem schwarzen Haar und meinem schwarzen Bart bin ich für die Menschen erst einmal Erdoğan – und nur selten Atatürk.

Meinen Master habe ich an der Türkisch-Deutschen Universität gemacht. Bei Politikwissenschaftler Wolfgang Wessels lernte ich, wie wichtig die Europäische Union für ein friedliches Miteinander ist. Ich will Teil dieser Idee sein und das am liebsten in Deutschland. Meine Cousine lebt hier, einige meiner Freunde. Kein Land fasziniert mich gleichermaßen, und eigentlich möchte jeder einmal deutsche Luft schmecken. Ich träume davon, vielleicht für meine Promotion, vielleicht für meine Arbeit als Journalist. Doch ich muss mich fair behandelt fühlen, ohne jedes politische Vorurteil. Solange ich dieses Gefühl in Deutschland nicht spüre, werde ich die Türkei nicht verlassen."

Konzernfachkraft Juventino Sanchez, 46, aus Mexiko kam 2021 nach Deutschland – und beendete seinen Vertrag vorzeitig.

"In meiner Heimat fahre ich seit Jahrzehnten unfallfrei Auto, in Hessen bin ich zweimal durch die praktische Prüfung gefallen und weiß noch immer nicht ganz genau, warum. Mexikanische Führerscheine sind in Deutschland erst mal nur sechs Monate gültig, dann muss man noch mal zur Fahrprüfung. Dafür habe ich sogar Verständnis, denn in Mexiko braucht man nicht unbedingt eine Fahrschule, um den Führerschein zu machen. Ich habe das Autofahren von meinen Eltern gelernt.

Schade finde ich aber, dass sich in der deutschen Fahrschule niemand richtig Zeit nimmt für die Schüler. Ich hatte den Eindruck, die Fahrlehrer sind völlig überlastet. Nach zwei Fahrstunden wurde ich schon zur Prüfung geschickt. Da hätte ich mir eine bessere Vorbereitung gewünscht. Einen dritten Versuch werde ich nicht unternehmen.

Ich hatte in Deutschland einen Arbeitsvertrag für vier Jahre bei einem internationalen Konzern. Aber ich habe mich so gestresst und unglücklich gefühlt, dass wir schon nach eineinhalb Jahren wieder zurück sind nach Mexiko. Mit der Mentalität der Kolleginnen und Kollegen bin ich einfach nicht klargekommen. Ich hatte das Gefühl, ihnen nichts recht machen zu können, und fand die Art, wie mit mir geredet wurde, sehr unhöflich. Eine Kollegin war freundlicher, aber als ich sie zum Grillen einladen wollte, meinte sie, das sei zeitlich schwierig, sie habe schon so viele private Termine, in zwei Monaten vielleicht. Das Treffen kam nie zustande.

Ein interkulturelles Training hat mir geholfen, das Verhalten der Deutschen besser einordnen zu können – aber zu diesem Zeitpunkt war der Umzug zurück nach Mexiko schon organisiert. Ich habe vieles persönlich genommen, was wohl nicht so gemeint war. Insgesamt scheint mir das Leben in Mexiko fröhlicher und unbeschwerter, obwohl wir natürlich auch viele Probleme haben, zum Beispiel mit der Kriminalität.

In Deutschland war meine 16-jährige Tochter abends noch allein unterwegs, das wäre in Mexiko-Stadt undenkbar. Sie war deshalb auch wütend auf mich, als klar war, dass wir vorzeitig wegziehen. Auch ich mochte die kleine Stadt, all die hübschen Gebäude, und alles ist so sauber. Aber ich hatte das Gefühl, mich sehr zurücknehmen zu müssen. Musik laut aufzudrehen habe ich nicht gewagt."

KI-Experte Richard Socher, 40, aus Deutschland bevorzugt das Silicon Valley als Start-up-Standort.

"Nach meinem Informatikstudium wollte ich unbedingt an künstlicher Intelligenz forschen – und zwar mit den besten Wissenschaftlern der Welt an einer Topuniversität. Ich bin in Dresden aufgewachsen, habe in Leipzig studiert und war am Max-Planck-Institut in Saarbrücken, gute Standorte mit guten Leuten. Aber nach meinem Master habe ich auf die Uni-Ranglisten geschaut und fand leider keine deutsche Hochschule in den Top Ten. Mir wurde schnell klar, dass ich in die USA muss. Dort sind die Spitzenunis für Doktoranden, dort sind alle Wissenschaftler, die in der KI-Forschung am häufigsten zitiert werden.

Man kann diese Uni-Ranglisten kritisieren, aber viele internationale Studenten und Fachkräfte richten sich danach. Es ist ein Problem für den Standort Deutschland, dass der Bund nicht klar sagt: Wir wollen eine Uni in den Top Ten haben. Wenn gefördert wird, wird die Summe wegen des Föderalismus auf 16 Länder verteilt. Dann kommt aber leider keine Top-Uni heraus.

Ich bin schließlich nach Stanford zu Christopher Manning und Andrew Ng gegangen, beide sind Koryphäen der KI-Forschung. Kurz nachdem ich angekommen war, habe ich Chris meine Idee vorgeschlagen: neuronale Netze für Sprachverarbeitung zu nutzen. Diese Idee ist heute allgegenwärtig, war jedoch damals verpönt. Er hat gesagt: "Ich habe damit noch nie gearbeitet, aber ich kann es mit dir lernen."

Diese Offenheit hat mich beeindruckt, in Deutschland sehe ich sie weniger oft. In den USA sind mehr Menschen bereit, auch während einer guten Karriere Neues zu wagen. Und sie wagen es, in Innovationen zu investieren. In Kalifornien erhielt ich schon während meines Doktorstudiums mehrere Millionen Dollar Wagniskapital für mein erstes Start-up von einem Venture Capital Fonds.

Heute investiere ich mit meinem Fonds selbst in Start-ups, die meisten sind in den USA, manche aber auch in Deutschland. Ich kann mir kaum vorstellen, wieder zurückzugehen. Meine Partnerin, meine Mitarbeiter und die meisten meiner Freunde leben hier. Und meinem großen Hobby, dem Paramotorfliegen, kann ich auf dem Land in Kalifornien auch besser nachgehen. Ich darf hier mit meinem motorisierten Paraglider einfach aus meinem Garten abheben, in Deutschland müsste ich von einem kleinen Flughafen starten. Und die besonders coolen Füge über Wälder, Klippen oder durch alte Steinbrüche, die ich hier mache, wären in meiner alten Heimat schlicht verboten."

Digitalnomadin María Emilia Rebollo Zanazzi, 39, aus Argentinien wird von hohen Mieten abgeschreckt.

"Ich habe 2017 in Deutschland gelebt, zu jener Zeit habe ich drei Monate mit einem Stipendium im Berliner Büro der internationalen spanischsprachigen Nachrichtenagentur EFE gearbeitet. Durchs Land gereist bin ich auch, es hat mir gut gefallen. In Argentinien sehen viele Deutschland als ein Land der Möglichkeiten, auch wenn man manche Dinge in Kauf nehmen muss, die Kälte zum Beispiel.

Ich hätte mir auch vorstellen können, länger zu bleiben. Aber ich glaube, um sich in Deutschland zu integrieren, ist die Sprache entscheidend. Und Deutsch ist nicht leicht. In meinem Sprachkurs haben wir unglaublich lange Wörter gelernt. Das größte Problem war: Der wichtigste Arbeitgeber – der spanische Dienst der Deutschen Presseagentur – hat damals viele Büros geschlossen.

Heute leben mein Partner und ich als digitale Nomaden, zurzeit arbeiten wir von den Kanaren aus. Wir hätten Interesse daran, nach Deutschland zurückzukehren, aber die Mietpreise sind enorm gestiegen, das ist ein ziemliches Hindernis. Ich habe schon damals für eine kleine Wohnung in Berlin-Friedrichshain 700 Euro bezahlt. Heute sind die Preise unbezahlbar. Um ohne Job dorthin zu ziehen, brauchst du eine sehr gute Basis an Erspartem. In Deutschland zu arbeiten können wir uns nicht leisten. Nach Deutschland reisen werden wir aber auf jeden Fall noch mal. Im nächsten Jahr wollen wir den Berlin-Marathon laufen."

Krankenpfleger Ralf Alcaras, 35, von den Philippinen kam 2016 nach Deutschland. Jetzt zog er nach Texas.

"Ich hätte gerne meine Mutter nach Deutschland geholt, aber das ist kompliziert. Hier in den USA kann man nach fünf Jahren die US-Staatsbürgerschaft beantragen, das ist kein Problem. Außerdem habe ich bessere Aufstiegschancen, muss mich um weniger Patienten kümmern und verdiene jetzt das Dreifache. Mein Traum ist es, eines Tages eine eigene Wohnung zu kaufen. Mit dem Gehalt, das ich als Pfleger in Frankfurt am Main bekommen habe, wäre das nicht einfach gewesen.

Ich hatte eigentlich vor, gleich nach meinem Pflegestudium in die USA zu ziehen. Aber dann hörte ich 2013 von diesem deutschen Anwerbeprogramm. Ein Jahr später habe ich mich beworben.

Meinen ersten Deutschkurs habe ich 2015 noch auf den Philippinen gemacht. Ich dachte, der Start in einem Pflegeheim würde einfach werden. Aber die Sprache und die Kultur waren ein Schock. Ich kannte viele medizinische Begriffe nicht und musste trotzdem vom ersten Tag an voll mitarbeiten, sogar Übergaben zum Schichtwechsel machen, was mich völlig überfordert hat. Nur zum Vergleich: Hier in den USA habe ich eine begleitete Einarbeitungszeit von drei Monaten!

Ich hoffe, dass der Pflegeberuf in Deutschland irgendwann besser anerkannt wird. Dann könnte ich mir eine Rückkehr nach Deutschland vorstellen. Hier in Texas ist es so heiß, dass ich nicht draußen sein will, und die lockeren Waffengesetze und die hohe Kriminalitätsrate machen mir Angst.

Ich vermisse meine Freunde aus Frankfurt, den deutschen Wald und deutsche Brötchen."

Welt Bundesausgabe, Die vom 11.09.2023, S. WR4

Junge Menschen mit Elan gesucht

Viele Ausbildungsplätze sind im Mittelstand unbesetzt geblieben

Fachkräftemangel ist auch für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) ein drängendes Problem und Nachwuchs rar. Zum Start des Ausbildungsjahres 2023 am 1. August blieben zahlreiche Ausbildungsplätze im Mittelstand unbesetzt. Der Deutsche Mittelstands-Bund (DMB) fordert daher eine Aufklärungsoffensive in den Schulen, damit junge Menschen eine solide Vorstellung von ihrem zukünftigen Berufsleben bekommen.

Zudem erreicht die Anzahl der Ausbildungsabbrüche eine alarmierende Größenordnung. Jungen Menschen fehle es häufig an einer realistischen Berufsvorstellung mit der Folge, dass der Anteil in der Gruppe der 20- bis 34-Jährigen ohne eine Berufsausbildung stetig zunehme und laut dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) im Jahr 2021 bereits bei 17,8 Prozent lag, konstatiert der DMB.

"Das Problem des Fachkräftemangels in Deutschland hängt in erster Linie mit den großen Schwierigkeiten für Unternehmen zusammen, überhaupt ausbildungsbereite und ausbildungsfähige Berufseinsteiger zu finden", sagt Marc S. Tenbieg, geschäftsführender Vorstand des DMB. "Es mangelt schlichtweg an einer ausreichenden Bewerberanzahl, da viele junge Menschen auch mitunter veränderte Vorstellungen von ihrem zukünftigen Berufsleben haben." Zudem werde häufig unterschätzt, wie viel Zeit und Geld Unternehmen tatsächlich in die Ausbildung investieren müssten, um später gute Fachkräfte zu haben.

Strukturelle Probleme

Dabei mangele es häufig nicht an der Kompromissbereitschaft der KMU. "Wir erfahren immer wieder, dass Betriebe in Sachen Schulabschluss oder Noten, dem Alter oder auch eventueller sprachlicher Probleme durchaus bereit sind, Abstriche zu machen", so Tenbieg. Dennoch sei der Zulauf an Kandidatinnen und Kandidaten für die Ausbildungsplätze vielerorts einfach zu gering. Hinzu kämen strukturelle Probleme in der praxisorientierten Schulausbildung. Die Vorteile einer dualen Ausbildung müssten daher anschaulich vermittelt werden.

Für viele Betriebe des Mittelstands steht die Zukunftsfähigkeit auf dem Spiel, wenn es künftig nicht besser gelingt, Auszubildende zu gewinnen. Für die deutsche Wirtschaft ist es darum entscheidend, dass wirksame Maßnahmen getroffen werden, damit mehr junge Menschen die Ausbildungsangebote der Unternehmen wahrnehmen.

Neben Erleichterungen für den Alltag der Auszubildenden, wie der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum in der Nähe von Ausbildungsstätten und dem Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs insbesondere in ländlichen Regionen, müsse laut Tenbieg aber ein grundsätzlich anderer Blick auf die duale Berufsausbildung etabliert werden. Angefangen in den Schulen. "Entscheidend ist, dass mehr junge Menschen diesen Bildungsweg als gleichwertige Möglichkeit gegenüber der akademischen Laufbahn wahrnehmen.

Das funktioniert nur, wenn die entsprechenden Berufsbilder bereits in der Schule mit Praxiszugang dargestellt und die Attraktivität der dualen Berufsausbildung gegenüber einem Studium stärker in den Vordergrund gerückt werden", betont Tenbieg. Lehrkräfte seien in der Pflicht, den Schülerinnen und Schülern Raum für die eigene Berufsorientierung zu geben. Das helfe, Ausbildungsabbrüche zu vermeiden und motiviere junge Menschen gleichzeitig, einen soliden Schulabschluss zu erwerben." Marc Tenbieg appelliert zudem, einer bislang vernachlässigten Gruppe neue Perspektiven zu bieten: "Rund 47.500 Jugendliche haben laut einer Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung die Schule im Jahr 2021 ohne einen Hauptschulabschluss verlassen. Das ist ein Alarmsignal für unser Bildungssystem, und wir müssen alles daran setzen, dass dieses Potential für den Ausbildungsmarkt befähigt werden kann."