Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.09.2023, S. 19 (Tageszeitung / täglich ausser Sonntag, Frankfurt am Main)
Rubrik im PS: | Wirtschaftspolitik |
Autor: | Hendrik Ankenbrand |
Auflage: | 193.785 |
Reichweite: | 798.394 |
Quellrubrik: | Die Lounge |
Superstar im Wartestand
Vor dem G-20-Gipfel in Neu Delhi ruft der Westen Indien zur kommenden Wirtschaftsmacht aus – schon wieder. Wird der indische Traum nun endlich wahr?
Indiens reichster Mann steht vor einer Kamera und platzt fast vor Stolz. Mukesh Ambani hat seine rot-weiß karierte Glückskrawatte angelegt, die er zu großen Anlässen trägt. Sein Vermögen wird auf rund 90 Milliarden Dollar geschätzt, was ihn selbst reicher macht als jeden reichsten Chinesen.
In China rasen Hochgeschwindigkeitszüge mit 350 Kilometern die Stunde durchs Land. In Indien tuckert der schnellste Zug noch nicht mal halb so schnell dahin. Trotzdem hat Ambani eine der alten Lokomotiven auf den Bildschirm in seinem Rücken projizieren lassen. Scharen junger Pendler strömen auf dem Bild der morgendlichen Arbeit in einer der Millionenstädte des Landes entgegen. "Das ist das neue Indien", sagt Mukesh Ambani. "Dieses Indien ist unaufhaltsam. Es holt keine Luft. Dieses Indien gibt nicht auf."
Dieser Auftritt, vor wenigen Tagen, ist kein Wahlkampfauftritt. Mushek Ambani will nach den Parlamentswahlen nicht Regierungschef sein. Das will Amtsinhaber Narendra Modi, sein Freund. Ambanis Lobrede auf sein Land leitet die Bekanntgabe der Jahresbilanz seines Konzerns ein, Reliance Industries, das größte Privatunternehmen im Land. Seinen Umsatz macht es vor allem mit der Gewinnung und Weiterverarbeitung von Öl zu Benzin und Chemikalien für Kunststoffe. Doch auch das Geschäft als Indiens größter Einzelhändler wächst rasant; die Telekommunikationssparte und das Geschäft mit Film und Fernsehen entwickeln sich ebenfalls ordentlich.
In Indiens Wirtschaftshauptstadt Mumbai hat sich Ambani auf dem Gelände eines früheren Waisenhauses ein 170 Meter hohes Wohnhaus gebaut, das zwischen 1 und 2 Milliarden Dollar gekostet haben soll und den Namen "Antilia" trägt. Die Garage für 168 Autos ist in Indien ebenso legendär wie jener Raum im Haus, der künstliche Schneeflocken produziert. Für die Feier von Indiens Unabhängigkeitstag am 15. August wählte Ambani jedoch eine Neuerwerbung im Ausland: Das über 1000 Jahre alte Anwesen Stoke Park nahe London, das einst der englischen Krone gehört hat und auf dessen Golfplatz einst im Film James Bond gegen den Schurken Goldfinger spielte.
Nachdem er Stoke Park 2021 für 57 Millionen Pfund übernommen hatte, schmiss Ambani die Mitglieder des Golfklubs raus und nutzt die alten Gemäuer laut Berichten für sich und seine Familie als Ferienhaus. Daheim in Indien, wo Ministerpräsident Modi regelmäßig dazu aufruft, das Trauma der kolonialen Vergangenheit unter britischer Fremdherrschaft abzustreifen, kommen derlei Machtdemonstrationen gut an. Da mögen Ökonomen wie Ashoka Mody von der Princeton University auch kritisieren, Indiens starkes Wirtschaftswachstum komme beim Großteil der Gesellschaft nicht an und mache nur Reiche wie Ambani noch reicher: Wenn der Milliardär auf dem Bildschirm die gelungene Landung einer indischen Sonde auf der Südseite des Monds zeigt und ruft, die Möglichkeiten des Landes in der Zukunft seien "grenzenlos", dann trifft er damit den Nerv des Volks, dessen Bevölkerungszahl seit diesem Frühjahr größer ist als die Chinas.
Wenn am Wochenende die Regierungschefs der G-20-Länder in Neu Delhi über die miese Lage der Weltwirtschaft reden, sei nur eines sicher, versprechen Unternehmer und Regierungschef: Indien starte jetzt durch. In den Monaten von April bis Juni wuchs die indische Wirtschaft im Jahresvergleich um 7,8 Prozent, noch mal mehr als angenommen und klar stärker als im vorangegangenen Quartal. Für das Gesamtjahr sagt die Zentralbank ein Wachstum von 6,5 Prozent voraus, 1,5 Punkte mehr als Chinas Zielvorgabe, die angesichts der wankenden chinesischen Immobilienindustrie wohl gar nicht mehr zu erreichen ist. Bis 2075 werde das Reich der Mitte trotzdem die größte Wirtschaft der Welt sein, prognostiziert die Bank Goldman Sachs. Doch dahinter folge in kurzem Abstand Indien – vor Japan, Deutschland und gar den USA.
Das demokratische Indien als Alternative zu Chinas Diktatur – für westliche Länder wie Amerika und Deutschland ist das ein Traum. "Indien ist in den letzten Monaten zu einem wirklichen Partner geworden", sagt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Der deutsche Autohersteller Volkswagen lässt zwar keine Gelegenheit aus, seiner "zweiten Heimat China" ewige Treue zu schwören. Wer im Wolfsburger Konzern nach Indien versetzt werde, der habe etwas "verbrochen", witzeln VW-Manager in Schanghai gern.
Es folgen Geschichten von verdorbenen Mägen und Leichen auf der Straße vor dem Hotel. Selbst in Indien heißt es aus dem Konzern, man verkaufe auf dem vermeintlichen Hoffnungsmarkt so viel wie in einer einzigen Filiale in Peking. D och Peking. D och das mag früher so gewesen sein. Inzwischen sind die goldenen Zeiten in China vorbei. Vor der Pandemie hat der VW-Konzern in seinem größten Markt deutlich mehr als 4 Millionen Autos im Jahr ausgeliefert. Im vergangenen Jahr waren es 1 Million weniger, Tendenz stark fallend. In Indien setzte VW im Jahr 2022 hingegen über 1 Million Fahrzeuge ab, was einer Steigerung innerhalb eines Jahres um 85 Prozent entspricht. Weil ein Chinese im Schnitt immer noch fünfmal so viel wie ein Inder verdient, verkaufen die Wolfsburger auf dem indischen Markt vor allem die günstigeren Fahrzeuge der tschechischen Tochtermarke Škoda.
Doch das mit Erfolg. Seit der VW-Konzern nicht mehr seine Ladenhüter in Indien verramscht, sondern mit dem Škoda Kushaq ein günstiges, aber edel wirkendes und aufs Land maßgeschneidertes Modell anbietet (Doppelkupplungsgetriebe für schnelles Ausweichen, extrastabiles Fahrwerk für Schlaglöcher), läuft der Absatz, auch wenn das fünfsitzige SUV mittlerweile eine Auffrischung braucht. Schließlich sind die indischen Kunden anspruchsvoll.
Trotzdem erinnert die Frage, ob Indiens wirtschaftlicher Aufstieg unaufhaltsam ist, an die einstige Debatte, ob Europa scheitert, wenn Griechenland wieder mit der Drachme zahlt: Je nachdem, welcher Ökonom angerufen wird, fällt die Antwort anders aus. Ashoka Mody aus Princeton bleibt kritisch, wenn es um sein Heimatland geht, das er vor vierzig Jahren verlassen hat. Den Indien-Hype findet er so hohl wie die alle paar Jahre wechselnden Werbeslogans der Regierung in Delhi. Ob "unglaubliches Indien" oder "Make in India": Demokratie und Wirtschaft seien "kaputt", findet Mody. Gegen vier von zehn Parlamentsabgeordneten sei zum Zeitpunkt ihrer Wahl ein Strafverfahren gelaufen, hält er seinem Land vor. Acht von zehn seien Millionäre. Und fast alle betrachteten kostspielige Wahlkämpfe als Investition mit dem Versprechen einer ansehnlichen Rendite.
Dass nicht das hohe Wirtschaftswachstum entscheidend ist, sondern die viel zu geringe Anzahl an Arbeitsplätzen und das Scheitern des Staats, Bildungsund Gesundheitssysteme zu bauen, die diesen Namen verdienen, kritisiert auch der frühere indische Zentralbankchef Raghuram Rajan, wenngleich mit weniger drastischen Worten. In der Sache aber klang auch Milliardär Charlie Munger nicht viel anders, der vor sechs Jahren über Indien höhnte, er würde lieber "mit einem Haufen Chinesen zusammenarbeiten". Der 99 Jahre alte Partner von Investmentlegende Warren Buffet, seit vielen Jahren großer Fan der Kommunistischen Partei Chinas, fand bei einer Konferenz in Los Angeles nicht viel Gutes an dem Land, aus dem sich sein Arbeitgeber Berkshire Hathaway zurückgezogen hatte. Korruption, Nachwirkungen des Kastensystems, Überbevölkerung – alles zum Davonlaufen. Indien habe bei seinem Abschied vom britischen Empire die "schlimmsten Aspekte der Demokratie" übernommen: "Alles stoppt, sobald ein Haufen Idioten schreit." Die Zweifel an Indien sind so alt wie der Staat selbst.
Als F.A.Z. -Redakteur Klaus Natorp 1973 sich vor Ort an der Seite Erhard Epplers einen Eindruck machte, schloss er sich der Skepsis des SPD-Entwicklungshilfeministers an, der so viele Milliarden Mark nach Indien überwies wie in kein anderes Land: "Datenverarbeitung in Madras, menschenunwürdige Existenzen in Kalkutta – was ist das für ein Land?"
Tatsächlich wurde Indien bereits in den Achtzigerjahren für Reformen bejubelt, die die Optimisten an das Amerika unter Ronald Reagan erinnerten. Arm blieb Indien trotzdem, während die Wirtschaft in China durch die Decke ging. Verglichen mit dem Nachbarn ist die Zahl der deutschen Unternehmen in der Volksrepublik heute dreimal so hoch. K lar hoch. K lar ist aber auch: Im einst so dynamischen Reich der Mitte steht inzwischen ebenfalls alles still, wenn der stärkste Arm im Land so will. Es sei gar nicht so sehr der von Xi Jinping befohlene monatelange Lockdown des Wirtschaftszentrums Schanghai im Frühjahr 2022 gewesen, der ihnen die Augen über die chinesische Diktatur geöffnet habe, sagen amerikanische Manager heute. Der Schock kam im Herbst, als Zehntausende infizierte Arbeiter in Angst vor der gefürchtetem Null-Covid-Ideologie des Staatsführers flohen und die weltgrößte Fabrik zur Fertigung des iPhone wochenlang lahmlegten. Weil es keine Alternative zu dem Standort gab, sei Apples Führung angesichts von sechs Millionen nicht produzierter iPhones "ausgeflippt", berichtet die Zeitung "Nikkei Asia" unter Verweis auf Konzernmanager.
Der Vorfall habe klar gemacht, dass man sich auf das China unter Alleinherrscher Xi nicht mehr verlassen könne. In den kommenden Jahren solle mindestens ein Fünftel der Produktion stattdessen aus Indien kommen, doppelt so viel wie derzeit. Dort wartet ein Heer junger Arbeitskräfte, während Chinas Gesellschaft altert und schrumpft. Nicht nur wegen Indiens demographischer Dividende glaubt etwa Columbia-Ökonom Arvind Panagariya an sein Heimatland. Zwar werde Indien nur Erfolg haben, wenn dort mehr Frauen arbeiteten – derzeit ist es nur jede vierte, ein lächerlich geringer Anteil im Vergleich zu China. Doch die Möglichkeiten, mit dem Einsatz neuer Technologien die Produktivität zu steigern, seien gewaltig.
Um in Indien Mensch und Maschine für die Produktion des neuen iPhone zu trainieren, habe es früher ein Jahr länger als in China gedauert, zitiert "Nikkei Asia" einen Manager von Apple. Im vergangenen Jahr sei der Rückstand dann auf einen Monat zusammengeschmolzen. Das Aufholziel für das laufende Jahr: zehn Tage.