Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 10.09.2023, S. 1 (Wochenzeitung / Sonntag, Frankfurt am Main)
Rubrik im PS: | Die Familienunternehmer / Die Jungen Unternehmer |
Autor: | Ralph Bollmann |
Auflage: | 191.668 |
Reichweite: | 806.922 |
Quellrubrik: | Titleseite |
Alle sind schuld an der Bürokratie
Die Verwaltung könnte viel schlanker sein – wenn die Deutschen nicht so hohe Ansprüche hätten.
Der Kanzler hat schon erkannt, dass die Sache nicht so einfach ist. Lange tat die Ampelregierung so, als könne sie das von ihr angestrebte neue Deutschlandtempo quasi im Alleingang durchsetzen, ausgerechnet von der Bundesebene aus, die zwar die allermeisten Gesetze macht, aber die allerwenigsten davon selbst umsetzt. Eine effizientere, digitalere, schnellere Bürokratie: das kann Berlin vielleicht noch beim Beschaffen von Kriegsgerät durchsetzen, aber bei der Baugenehmigung bis zum Steuerbescheid geht das nicht ohne die Länder und Kommunen.
Deshalb hat Olaf Scholz aus dem Deutschlandtempo jetzt einen Deutschlandpakt gemacht, einen Appell an die Ministerpräsidenten von Kiel bis München also, doch bitte mitzutun beim schrammenfreien Joggingprogramm für die Republik. Opposition und Regierungsparteien reagierten mit den üblichen Ref lexen des föderalen Systems: Sie spielten den Ball zurück ins gegnerische Feld und attackierten wiederum den Bund für bisherige Untätigkeit.
Viele Bürger werden dem zustimmen, was Scholz am Mittwoch im Bundestag sagte: "In der Zeit, in der wir die Verlängerung einer einzigen U-Bahn-Linie oder ein Hochhaus planen, werden in manchen Ländern in Asien oder in Amerika ganze Schnellzug-Linien und neue Stadtteile gebaut", klagte er. "Die Bürgerinnen und Bürger sind diesen Stillstand leid. Und ich bin es auch."
Die Frage ist allerdings, ob die von Scholz zitierten Bürger – ebenso wie vorgeblich der Kanzler selbst – wirklich nur willenlose Opfer abstrakter Zustände sind. Oder ob sie nicht mit ihren eigenen Wünschen und Ansprüchen die gegenwärtige Blockade herbeigeführt haben. Und ob der viel beklagte Paragraphendschungel auch deshalb so wucherte, weil alles andere bei Wahlen von der Bevölkerung abgestraft worden wäre.
Die Hindernisse, auf die die Politik regelmäßig stößt, haben ihre Wurzeln in zwei sehr deutschen Vorlieben: dem Streben nach Gerechtigkeit für jeden noch so komplizierten Sonderfall und dem Wunsch, möglichst jedes Risiko entweder von vornherein auszuschließen oder zumindest im Nachhinein irgendjemanden verantwortlich zu machen, der eine Vorschrift übertreten hat.
So sieht es zum Beispiel der Krefelder Unternehmer Lutz Goebel. Er sitzt dem Normenkontrollrat vor, der im Auftrag der Bundesregierung Vorschläge für den Bürokratieabbau machen soll. Als Beispiel für das Streben nach Gerechtigkeit im Einzelfall nennt er die Grundrente. "Einen Anspruch darauf hat nur, wer nicht über Kapitalerträge verfügt. Nun ist es sehr selten, dass jemand geringe Alterseinkünfte hat und zugleich hohe Zinsen und Dividenden bekommt", sagt er. "Wir konnten nachweisen: Der Aufwand, um das abzuchecken, ist achtmal so groß wie die mögliche Größenordnung des Missbrauchs." Prüfen will es der Staat trotzdem – auch aus Angst vor dem öffentlichen Aufschrei, wenn dann doch ein Vermögender die Sozialleistung bezieht.
Am allerdeutlichsten zeigt sich das am Steuerrecht. Von den Plänen für ein System mit drei Steuersätzen ohne Ausnahme, die Angela Merkel und ihr Schatten- Finanzminister Paul Kirchhof im Wahlkampf 2005 propagierten, ist keine Rede mehr. Auch der heutige CDU-Vorsitzende Friedrich Merz ist längst von jener Steuererklärung auf dem Bierdeckel ab-Modell ersetzt werden. Das ließ sich nicht durchhalten, weil bis dahin kein Hauseigentümer weiß, ob es in seiner Straße einen Fernwärmeanschluss geben wird. Statt die Sache aber einfach zu verschieben, kam ein ganzes Konvolut an Ausnahmeregeln hinzu. Niemand sollte eine "unbillige Härte" erleiden, wie es in der Sprache der Juristen heißt. Ausgerechnet die Entbürokratisierer von der FDP sorgten dafür, dass die Sache noch bürokratischer wurde.
Um zu verstehen, was das bedeutet, muss man sich den fertigen Gesetzestext zu Gemüte führen. Dort steht zum Beispiel in einem einzigen, unendlich komplizierten Satz: "Der Betreiber einer mit einem f lüssigen oder gasförmigen Brennstoff beschickten Heizungsanlage, die nach Ablauf des 31. Dezember 2023 und vor Ablauf des 30. Juni 2026 im Fall des Absatzes 8 Satz 1 oder vor Ablauf des 30. Juni 2028 im Fall des Absatzes 8 Satz 2 oder vor Ablauf von einem Monat nach der Bekanntgabe der Entscheidung nach Absatz 8 Satz 3 eingebaut wird und die nicht die Anforderungen des Absatzes 1 erfüllt, hat sicherzustellen, dass ab dem 1. Januar 2029 mindestens 15 Prozent, ab dem 1. Januar 2035 mindestens 30 Prozent und ab dem 1. Januar 2040 mindestens 60 Prozent der mit der Anlage bereitgestellten Wärme aus Biomasse oder grünem oder blauem Wasserstoff einschließlich daraus hergestellter Derivate erzeugt wird."
Die Vorherrschaft der Juristen macht es noch schlimmer. Sie bilden in Verwaltung und Parlamenten zumeist die größte Berufsgruppe. Auch das Verfassungsgericht in Karlsruhe hat durch sein Beharren auf Gerechtigkeit im Einzelfall viele Dinge komplizierter gemacht – das derzeitige Grundsteuer-Chaos etwa geht auf seine Intervention zurück. Das hat auch historische Gründe: Das alte Preußen war früh ein Rechtsstaat und spät eine Demokratie, die Folgen spürt man bis heute im Alltag.
Dabei ist Bürokratie an sich nichts Schlechtes, im Gegenteil: Nur eine Vergerückt, die er vor zwanzig Jahren ins Spiel gebracht hatte. Noch nicht mal von einer leicht zu bedienenden Steuer-App wie in manchen anderen Ländern ist die Rede. Zu unangenehm wäre der Aufschrei, der beim Wegfall jeder einzelnen Vergünstigung entstehen würde – nicht nur von Politikern oder großen Wirtschaftsverbänden, sondern auch von jedem Einzelnen. Früher glaubten viele, von Steuervorteilen und den früher verbreiteten Abschreibungsmodellen könnten nur Besserverdienende profitieren. Heute entdeckten angesichts der Kirchhof- Pläne auch andere Leute ihre Betroffenheit: Steuerfreie Nacht- und Sonntagszuschläge für Krankenpf leger oder Schichtarbeiterinnen würden einem radikal vereinfachten Steuersystem zum Beispiel ebenso zum Opfer fallen wie die Pendlerpauschale oder womöglich gar die ermäßigte Mehrwertsteuer auf Lebensmittel.
Das deutsche Steuerrecht werde "immer komplizierter", klagte der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble schon vor fast einem Jahrzehnt in der F.A.S. "Aber dafür gibt es Gründe: Wir als Bürger verlangen in einer immer komplizierteren Welt nach Gesetzen, die jeden Einzelfall abdecken. Das ist bei Lebensmittelgesetzen oder Lärmschutzregeln nicht anders als im Steuerrecht. Auf Ansprüche folgen Klagen, dann wieder eine neue Rechtsprechung." Bei anderer Gelegenheit regte er an, "mal vier Jahre lang gar kein Steuergesetz zu machen", um die Vorschriften wenigstens nicht noch komplizierter zu machen. Hinzu kommt: Wer in anderen Ländern bei der Steuer sparen will, der verschweigt meist Einnahmen. In Deutschland erfindet er Ausgaben, was die Sache wegen der vielen Belege ungleich komplizierter macht.
Der Wunsch, jedem Einzelfall gerecht zu werden, verunstaltete zuletzt auch das Heizungsgesetz. Am Anfang schien die Sache klar zu sein: Geht nach dem 1. Januar 2024 eine fossile Heizung kaputt, muss sie durch ein klimafreundliches waltung, die sich formal an Recht und Gesetz orientiert, kann den Willen des demokratischen Souveräns in die Praxis umsetzen. Schlimm wird es nur, wenn die Regeln selbst am Ende unpraktikabel erscheinen. Und neben dem Gerechtigkeitsstreben der Deutschen gibt es noch einen Treiber: das große Sicherheitsbedürfnis. Oder genauer: Das Unvermögen, Zufälle oder Schicksalsschläge zu akzeptieren, und der dringende Wunsch, deshalb immer einen Schuldigen auszumachen, und sei es nur eine fehlende Vorschrift.
Für Deutschlands bekanntesten Provinzbürgermeister, den Tübinger Rathauschef Boris Palmer, ist das ein Lieblingsthema. Vor allem auf den Brandschutz hat er es abgesehen. "Wenn sich Oberbürgermeister treffen, zum Beispiel bei Versammlungen des Städtetags, hat jeder zum Brandschutz eine absurde Geschichte beizutragen", berichtete Palmer schon vor einigen Jahren. Die Furcht vor Feuer zähle "zu den besonders intensiven Urängsten des Menschen". Deshalb versucht hier der Staat, angetrieben von der Psychologie seiner Bürger, jedes noch so kleine Risiko auszuschließen – während in anderen, weniger traumatischen Bereichen wie dem Sport weitaus größere Gefahren als vollkommen akzeptabel gelten.
Eines von Palmers Lieblingsbeispielen ist die Renovierung einer historischen Schule in seiner Stadt. Reichte bisher ein geräumiges Treppenhaus in der Mitte des nicht allzu großen Gebäudes völlig aus, so wurden auf einmal zusätzliche Fluchttreppen auf beiden Seiten nötig. Das Ergebnis: "Verlust von acht Klassenzimmern in bester Lage, Mehrkosten von einer Million Euro." In Deutschland sterben nach Palmers Angaben meist weniger als drei Menschen pro Jahr durch Brände in öffentlichen Gebäuden, trotzdem werde dem Problem weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt als etwa den Verkehrstoten durch hohe Geschwindigkeit auf der Autobahn.
Der finanzielle Aufwand summiert sich bundesweit zu Milliardenbeträgen. Auch die verzögerte Inbetriebnahme des neuen Berliner Flughafens hatte vor allem mit den immer schärferen Brandschutzvorschriften zu tun. Ein Verwaltungsbeamter im Landratsamt von Königs Wusterhausen wollte am Ende die Verantwortung nicht tragen und verweigerte für die Inbetriebnahme die Unterschrift.
Bürokratie-Kontrolleur Goebel beobachtet, wie sich diese Risikoscheu auf die Behörden überträgt. "Der Verwaltungsbeamte, der einen Fehler macht, wird zur Rechenschaft gezogen, ob von seinem Vorgesetzten oder vor Gericht. Deshalb verlangt er nach immer mehr Regulierung oder nach dem dritten Gutachten, wenn er Ermessen ausüben muss", sagt Goebel. "Bei uns im Unternehmen haben wir dagegen keine solche Fehleraversion, sondern eine positive Fehlerkultur. Wir sagen: Übernimm Verantwortung, entscheide selbst. Und wenn Fehler passieren, fragen wir: Was machen wir in Zukunft besser?" Das gebe es beim Staat viel zu wenig.
Deshalb ist es am Ende weniger entscheidend, was Politiker wie die 16 deutschen Ministerpräsidenten zur Effizienzinitiative des Bundeskanzlers sagen. Viel wichtiger ist, ob die Bevölkerung als Ganzes auch mal eine kleine Ungerechtigkeit hinnimmt oder ein winziges Risiko toleriert. Tun sie das, verfestigen die Deutschen selbst jenen Stillstand, den sie nach den Worten des Bundeskanzlers so leid sind.