Rubrik im PS: | Arbeitsmarkt |
Autor: | Florian Gontek |
Auflage: | 708.075 |
Reichweite: | 4.843.233 |
Quellrubrik: | Wirtschaft |
Zuwanderung
Bloß nicht Deutschland!
Um ihren Wohlstand zu bewahren, braucht die Bundesrepublik mehr Fachkräfte aus dem Ausland. Doch es kommen zu wenige. Und wer hier ist, will oft schnell wieder fort. Hochqualifizierte berichten, was sie an diesem Land stört.
Über die Attraktivität Deutschlands macht sich Pflegeheimbetreiber Kaspar Pfister keine großen Illusionen. Er ließ auf den Philippinen nach Fachkräften suchen. Frage man in Manila 100 angehende Pflegeexperten, ob sie sich ein Leben im Ausland vorstellen könnten, erzählt er, höben 90 die Hand. Frage man, wer nach Deutschland wolle, bleibe eine einzige Hand oben.
Deutsche Manager und Minister reisen derzeit weit, um nach Fachkräften zu fahnden. Der Chef der Münchner Verkehrsgesellschaft hofft auf Busfahrer aus Afrika. Kliniken fahnden in Vietnam. Und Arbeitsminister Hubertus Heil, SPD, warb in Brasilien, Ghana und Indien um Fachkräfte für Germany.
Ihr Erfolg ist überschaubar. Nur ein Beispiel: Trotz aller Anstrengung konnte die Bundesagentur für Arbeit im vergangenen Jahr gerade einmal 656 Pflegekräfte aus dem Ausland vermitteln. Nötig wären Zehntausende. Und die Pflege ist nur eine Branche von vielen, die vergebens auf Experten aus der ganzen Welt hoffen.
Minister Heil gibt sich inzwischen realistisch: "Deutschland ist ein attraktives Land", sagt er, um dann mit den Problemen rauszurücken: "Aber es steht im Wettbewerb mit vielen anderen Ländern, in denen es eine längere Tradition der Zuwanderung gibt oder eine Sprache gesprochen wird, die weiter verbreitet ist." Im Klartext: Deutschland empfängt eher weniger freundlich. Und: Deutsch lernen zu müssen ist die größte Hürde.
Die Bundesrepublik, so viel ist gewiss, ist kein Traumland für internationale Fachkräfte. Wenn sie die Wahl haben, machen sie um Deutschland einen Bogen.
Weil sie die Mundart nicht verstehen.
Weil das Warten auf ein Visum sie verschreckt.
Weil die Miete in deutschen Metropolen hoch und der Empfang durch die neuen Nachbarn kühl sein könnte.
Das ist es jedenfalls, was Rückkehrer erzählen, wenn sie in Spanien, Indien oder auf den Philippinen von ihrer Zeit in Deutschland berichten – was Deutschlands Ruf im Ausland formt. Und das Problem quasi verdoppelt. Schlimm genug, dass es vergleichsweise wenig Experten ins Land zieht. Schlimmer ist, dass jährlich mehr als eine Million Menschen es wieder verlassen.
Die Zahl belegt, dass Deutschland nicht überall als offen und lebenswert empfunden wird. Vor allem aber sagt sie viel aus über die wirtschaftliche Zukunft.
Weil Deutschland altert, gehen dem Arbeitsmarkt bis zum Jahr 2035 an die sieben Millionen potenzielle Erwerbstätige verloren. Damit könnte der Wohlstand schrumpfen. Um das Land am Laufen zu halten und es zu verändern, um Windräder zu bauen und Wärmepumpen anzuschließen, um neue Medikamente zu entwickeln und Chipfabriken zu betreiben, um Kinder zu fördern und Senioren zu pflegen, braucht es: Menschen.
Vor wenigen Wochen sprach die Vorsitzende des Wirtschafts-Sachverständigenrates der Bundesregierung im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" eine schlichte Wahrheit aus. Um den Arbeitskräftemangel auszugleichen, seien pro Jahr rund 1,5 Millionen qualifizierte Zuwanderer nötig, rechnete Ökonomin Monika Schnitzer vor. Eine simple Kalkulation: Subtrahiert man von dieser Zahl jene mehr als eine Million Menschen, die jährlich wieder abwandern, bleiben rund 400.000 zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Ausland. So viele also, wie es braucht, um die demografische Lücke schließen.
Der Sachverständigenrat teilt diese Sicht einhellig. Nur die Opposition im Bundestag hält die 1,5-Millionen-Marke für unerhört. Vergangenen Montag warnte CDU-Chef Friedrich Merz im Bierzelt in Gillamoos davor, "die Grenzen unserer Aufnahmefähigkeit" zu überschreiten. Es klang wie der Ruf aus einer längst vergangenen Zeit. Einer, in der man es für klug hielt, auch für qualifizierte Zuwanderer die Hürden hoch zu halten.
Schon lange plädieren Ökonominnen und Ökonomen für ein Umdenken. "Wir sind als Einwanderungsland nicht so attraktiv, wie wir uns das einbilden", sagt Martin Werding, Sozialexperte von der Universität Bochum und wie Schnitzer einer der fünf Wirtschaftsweisen. Im Jahr 2021 zog es gerade einmal 40.000 Fachkräfte aus Nicht-EU-Ländern wegen der Arbeit nach Deutschland. Die Analyse lautet: Die Bundesrepublik ist zwar ein Sehnsuchtsort für Geflüchtete mit unterschiedlichen Qualifikationen – aber kein Traumland für Fachkräfte mit Arbeitsvisum.
Bislang spielt die Arbeitsmigration in Deutschland eine marginale Rolle. Nur fünf Prozent aller Zugewanderten kommen, weil sie eine Erwerbstätigkeit aufnehmen werden. In klassischen Einwanderungsländern wie Kanada, Australien oder Neuseeland liegt dieser Anteil zwischen 40 und 50 Prozent. Umso tragischer ist es, wenn jene Fachkräfte Deutschland wieder verlassen. "Wenn wir die Quote der Auswanderer halbieren würden, hätten wir einen guten Teil des Fachkräfteproblems gelöst", sagte Andrea Nahles, als sie vor einem Jahr ihr Amt als Chefin der Bundesagentur für Arbeit (BA) antrat.
Die BA lässt untersuchen, warum so viele zurück in ihre Heimat gehen. Das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung an der Universität Tübingen hat dazu 1885 Personen in einer nicht repräsentativen Vorstudie befragt. EU-Bürger hatten demnach meistens eher nur kurze Aufenthalte geplant, die Freizügigkeit macht auch spontane Migrationsabenteuer möglich. Für länger planten vor allem die Menschen aus Drittstaaten.
Ein Viertel der Befragten verließ Deutschland aus beruflichen Gründen wieder, weil etwa Berufsabschlüsse nicht anerkannt wurden. Fast der Hälfte fiel es nach der Ankunft schwer, sich ohne Hilfe zurechtzufinden. Tatsächlich sind die bürokratischen Hemmnisse so hoch, dass selbst deutsche Heimkehrer sich schwertun, für ihre Kinder einen passenden Schulplatz zu organisieren.
Besonders bedenklich: 51 Prozent der Befragten gaben an, wegen ihrer ethnischen Herkunft oder aus anderen Gründen diskriminiert worden zu sein – auch in Behörden oder im Arbeitsleben. Einzelne Zuwanderer berichteten, dass ihnen wegen ihrer Nationalität der Zutritt zu Bars verweigert wurde. Vor allem in Ostdeutschland sei das der Fall gewesen. Das arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft erkennt inzwischen "Standortnachteile" für den Osten.
Es gäbe einiges zu tun.
Migranten in Deutschland fühlen sich alleingelassen, wie eine Studie der OECD zeigt. Befragt wurden Tausende Zuwanderer und solche, die es werden wollen. Kaum mehr als die Hälfte der Befragten bewertet das deutsche Migrationssystem positiv. Für fast 30 Prozent der Migrationswilligen ist es die erste Hürde, die deutschen Einreisebestimmungen zu verstehen. Für die Mehrheit bleibt eine wesentliche Barriere: die Sprache.
Wer eine Arbeitserlaubnis beantragen will und auf dem Amt mit den Worten "Wenn Sie in Deutschland leben, müssen Sie Deutsch sprechen" angeraunzt wird, wie es eine mexikanische Finanzmanagerin berichtet, der fühlt sich nur wenig willkommen.
Der SPIEGEL hat mit Fachkräften auf der ganzen Welt gesprochen, die von ihren Erfahrungen mit dem Standort D berichten. Einige von ihnen würden zurückkehren nach Deutschland – wenn sich etwas änderte.
Wirtschaftsexperten plädieren für eine einfache Botschaft: Nicht für jeden Job müsse gefordert werden, dass ausländische Fachkräfte Deutsch können. Man könne auch dafür sorgen, dass die Mitarbeiter der Ausländerbehörde Englisch sprechen.
In Wahrheit wird es bald so sein: Nicht die qualifizierten Zuwanderer müssen sich bewerben. Sondern Deutschland.
Finanzexpertin Patricia Salinas, 34, aus Mexiko zog 2019 für einen Job bei einem Kosmetikkonzern nach Hamburg. Jetzt lebt und arbeitet sie in Dubai.
"Von all den Städten, in denen ich schon gelebt habe, ist Hamburg die schönste. Die Alster und die vielen hübschen Viertel mit den kleinen Cafés finde ich wundervoll. Auch die deutsche Arbeitskultur gefällt mir, alle sprechen so offen und auf Augenhöhe miteinander. Trotzdem stand für mich nach vier Jahren fest: Ich muss weg.
Ich habe mich in Deutschland nie zu Hause gefühlt, war permanent im Überlebensmodus. Der Ärger mit meinen Nachbarn fing gleich nach meinem Einzug an. Mein kleiner Hund mache das Treppenhaus dreckig, hieß es. Ständig bekam ich deshalb Zettel vor die Tür gelegt. Einmal lag dort sogar Kot, "viele Grüße von deinem Hund", stand da. Dabei mache ich seine Hinterlassenschaften immer weg.
Angefreundet habe ich mich in Hamburg vor allem mit Expats. Meinen engsten Freunden ging es wie mir: Sie haben sich nie richtig eingelebt und sind weiter nach Brasilien, Mexiko, Südafrika, USA. Eine Freundin ist ein Jahr vor mir nach Dubai gezogen. "Nach einer Woche dort brauchst du meine Hilfe nicht mehr", hatte sie gesagt. Und das stimmt.
Ich kann selbst kaum glauben, wie einfach mir die Ankunft gemacht wurde. Visum, Einwohnerausweis, Bankkonto – in weniger als zwei Wochen sind alle Formalitäten erledigt. Für die Kontoeröffnung kam ein Bankmitarbeiter zu mir ins Büro, der Immobilienmakler hat mich für die Wohnungsbesichtigungen abgeholt und wieder zurückgefahren. Von der Post wurde ich freundlich gefragt, wann mir die Zustellung passen würde.
Jeder hier spricht Englisch. Wenn ich in Deutschland Probleme mit meinem Internetzugang hatte oder die Waschmaschine repariert werden musste, brauchte ich einen Dolmetscher. Mein Deutsch ist immer noch auf Anfängerniveau.
Drei Monate lang hatte ich versucht, einen Behördentermin zu bekommen, um eine Ausnahmeregelung für meine Blue Card zu beantragen. Mit ihr kann ich in der EU arbeiten. Ich hätte sie gern behalten. Der Plan war ursprünglich, dass ich in drei Jahren aus Dubai nach Hamburg zurückkehre.
Als ich persönlich im Amt erschien, um die Verlängerung zu beantragen und ich die Dame bat, langsam zu sprechen, schnauzte sie mich an: "Wenn Sie in Deutschland leben, müssen Sie Deutsch sprechen." Da fühlte ich mich sehr diskriminiert. Als Finanzchefin für Lateinamerika musste ich in Hamburg den ganzen Tag Spanisch, Portugiesisch und Englisch sprechen. Ich hatte keine Möglichkeit, mein Deutsch anzuwenden.
Die deutsche Blue Card wurde mir inzwischen ohne stichhaltige Argumente entzogen, aber ich will aus Dubai auch gar nicht mehr weg. Ob ich Essen bestelle oder meine Nägel lackiert haben will – ein Klick in der App, und schon kommt jemand. Die Kehrseite der Medaille ist, dass all diese Arbeitskräfte, die aus materieller Not hierherziehen, ein hartes Leben führen. Internationale Fachkräfte wie ich werden in Dubai verwöhnt."
Sozialarbeiterin Irene Calle Rosa, 34, aus Spanien scheiterte an der Anerkennung ihrer Ausbildung in Deutschland.
"Wir sind seit etwa sechs Jahren in Deutschland und würden hier gern bleiben. Trotzdem packe ich gerade unsere Umzugskisten. Es geht nicht anders. Eigentlich wollte ich in München längst als staatlich anerkannte Sozialpädagogin arbeiten. Aber trotz meiner Ausbildung und meiner jahrelangen Berufserfahrung darf ich diesen Beruf in Deutschland noch nicht ausüben.
Meinen Masterabschluss habe ich in Dänemark und Finnland gemacht, er wird von deutschen Behörden nur teilweise anerkannt. Ich kann das nachvollziehen, es gibt in Deutschland schon einige Besonderheiten, die man beachten muss: Recht, Verwaltung, Steuern, solche Sachen. Also habe ich ein Brückenseminar an einer deutschen Uni absolviert – und einen Sprachkurs habe ich auch gemacht. Aber jetzt fehlt mir noch ein Praktikum, das man nur in Vollzeit machen kann, und ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll.
Meine jüngste Tochter ist zehn Monate alt, ihre große Schwester ist viereinhalb. Mein Mann arbeitet in Vollzeit, wir brauchen einen Kita- und einen Krippenplatz für die Kinder. Aber die Betreuungssituation ist eine Katastrophe. Wir sind umgezogen, um endlich einen Kitaplatz für meine älteste Tochter zu finden. Jede Woche habe ich bei der Elternberatung angerufen, habe unzählige Mails an Kitas und Tagesmütter verschickt. Da ich keinen Job habe, stehe ich weit hinten auf der Warteliste – aber wie soll ich ohne Kinderbetreuung eine Arbeit finden? Vom Geld ganz zu schweigen: Mein Praktikumsgehalt würde kaum reichen, um eine Tagesmutter zu bezahlen.
Dazu kommen die hohen Mieten. Mein Mann arbeitet als Informatiker, er verdient ziemlich gut. Aber unsere Wohnung ist sehr teuer. Wir haben eine Staffelmiete, und obendrein hat unser Vermieter die Nebenkosten um 300 Euro erhöht. 2000 Euro im Monat sind für uns einfach zu viel.
Wir haben uns den Abschied nicht leicht gemacht. Ich mag München sehr. Meine Älteste kann vor unserer Haustür mit dem Fahrrad fahren. Und das Klima ist auch toll. Wir würden gern bleiben, aber jetzt ziehen wir nach Las Palmas. Dort sind die Mieten günstiger, und die Kinderbetreuung ist auch kein Problem.
Dass wir Deutschland verlassen, macht mich traurig. Aber ich will einfach nicht noch länger warten, bis ich endlich wieder arbeiten kann."
Krankenpfleger Henry Macharia Maina, 39, aus Kenia zog 2010 nach Mönchengladbach. Im August wanderte er in die USA aus.
"Entweder verlasse ich das Land oder den Job: Nach mehr als zehn Jahren als Pfleger in Deutschland habe ich dann keine anderen Optionen mehr für mich gesehen. Ich war ständig überarbeitet. An freien Tagen klingelte das Telefon, ob ich noch irgendwo einspringen könne. Und im Dienst wollten zu viele Menschen zu viel auf einmal von mir. Ich musste oft 20 Patienten gleichzeitig betreuen, nachts war ich schon mal mit 36 Patienten allein auf der Station. Hier in Connecticut bin ich maximal für 8 Patienten zuständig, das ist die gesetzliche Obergrenze.
Ich mag meinen Job. Aber als Pfleger in Deutschland ist man nicht nur für die Pflege verantwortlich, sondern ist gleichzeitig Servicekraft, Putzmann und Dokumentar für alles, was mit den Patienten passiert. Anerkennung gibt es keine. Hier in den USA ist das ganz anders. Und noch etwas: Wenn ich sage, dass ich von Beruf Krankenpfleger bin, sind die Leute beeindruckt. Ich verdiene jetzt das Dreifache und arbeite weniger: 36 Stunden statt 40 Stunden pro Woche.
Die Wertschätzung für meinen Beruf in den USA hängt damit zusammen, dass die Zugangsprüfung viel schwerer ist als in Deutschland. Drei Jahre lang habe ich mich darauf vorbereitet und viel Geld für Online-Weiterbildungskurse ausgegeben. Ich musste richtig viel lernen, zum Beispiel über Geburtshilfe. Da bewegen Pfleger sich auf dem Niveau eines Assistenzarztes.
Es gibt verschiedene Agenturen, die darauf spezialisiert sind, Pflegefachkräfte in die USA zu vermitteln – und die sich um alles kümmern. Um die Prüfung, die Green Card, den Umzug. An meine Agentur bin ich jetzt zwar für ein Jahr gebunden und muss jeden Monat einen kleinen Prozentsatz meines Gehalts abgeben, aber es lohnt sich. Ich bekam so viele Jobangebote aus allen möglichen US-Bundesstaaten! Entschieden habe ich mich für eine Klinik in Connecticut, weil mein Bruder hier in der Nähe lebt.
Vor allem: Hier achtet niemand auf meine Hautfarbe. In Mönchengladbach hatte ich das Gefühl, dass Afrikaner und Türken als Menschen zweiter Klasse gelten. Wenn ich als Zeitarbeiter in eine neue Klinik kam, gab es immer skeptische Blicke. Na, ob der das kann? Ich hatte den Eindruck, dass von mir mehr erwartet wurde als von anderen."
Social-Media-Managerin Dharti Patel, 29, aus Indien entschied sich für ein Leben in Kanada statt in Deutschland.
"Meine Partnerin Shubhalaxmi und ich kamen im August 2019 nach Kanada, wir sind im Großraum Toronto sehr glücklich. In unserer Heimat Indien mussten wir für unsere Beziehung kämpfen. Hier schaut uns niemand schräg an, wenn wir Hand in Hand durch die Straßen laufen, wir können zusammenwohnen, im Februar haben wir geheiratet.
Zuerst hatten wir ein bisschen Angst vor dem kanadischen Winter, deshalb haben wir uns auch über Deutschland informiert. Ein Auswanderungsberater sagte uns aber, das Land sei nur was für Ingenieure.
Wir wollten so schnell wie möglich raus aus Indien, daher war die Sprache ein wichtiger Punkt. Shubh und ich hatten zwar beide schon gearbeitet, wollten aber erst noch ein weiterführendes Studium im Ausland absolvieren, und um uns über Wasser zu halten, würden wir einen Nebenjob brauchen, das war uns klar. Ich weiß noch, wie ich mir ein Video ansah, in dem es hieß, man solle fließend Deutsch sprechen, um in einem Restaurant zu arbeiten. Das noch zu lernen, dafür hatten wir keine Zeit.
Und noch ein Unterschied ist mir aufgefallen: Kanada vermarktet sich viel stärker als Deutschland, wir kamen schneller an Infos, YouTube zum Beispiel ist voll mit Videos über das Einwanderungssystem. Auch mit Beratungsagenturen in Indien scheint die kanadische Regierung zusammenzuarbeiten, jedenfalls machen die ziemlich viel Werbung für das Land. Wenn Deutschland mehr ausländische Arbeitskräfte anziehen möchte, könnte es da ansetzen.
Nach Kanada einzuwandern war einfach. Wir haben erst zwei Jahre lang hier studiert und dann eine Arbeitserlaubnis für drei weitere Jahre bekommen, das sogenannte Post-Graduation Work Permit. Es ist bei Weitem nicht alles super hier, in vielen Bereichen ist es schwierig geworden, einen Job zu finden. Außerdem sind knapper Wohnraum und hohe Mieten ein riesiges Problem.
Trotzdem könnte ich mir aktuell nicht vorstellen, anderswo zu leben. In Kanada bin ich frei, ich kann mit der Person zusammen sein, die ich liebe, das hat für mich Priorität. Und die Winter sind auch nicht so schlimm wie gedacht. Im Gegenteil: Ich mag den Schnee."
Juraprofessor Thomas Krebs, 52, aus Deutschland bleibt lieber in Oxford, statt einem Ruf nach Leipzig zu folgen.
"Seit dem Brexit fühle ich mich in Großbritannien nicht mehr richtig willkommen. Über den Ruf der Uni Leipzig habe ich mich deshalb gefreut. Ich wollte zusammen mit meiner Frau Beatrice, die Rechtswissenschaft an der Uni Reading lehrt und sowohl deutsche als auch britische Juristin ist, den englischsprachigen Studiengang International Business Law aufbauen. Uns reizte die Vorstellung, noch mal etwas Neues zu starten.
Ich war davon ausgegangen, dass wir uns in Leipzig ein staatliches Gymnasium für unsere beiden Töchter aussuchen könnten. Aber nur ein einziger Schulleiter war bereit, mich persönlich zu treffen. Er teilte mir mit, dass es unwahrscheinlich sei, dass unsere Töchter eine gemeinsame Schule finden würden. Alle Leipziger Gymnasien seien hoffnungslos überfüllt, und nur die jüngere Tochter habe überhaupt einen Anspruch auf einen Platz, weil sie neu in der fünften Klasse starte. Die ältere habe nur dann eine Chance, wenn ich das Schulamt überzeugen könne, dass sie ein "Härtefall" sei.
Das Infoblatt des Landesamts für Schule und Bildung dazu ist so bürokratisch formuliert, dass selbst wir zwei Juristen mehrere Anläufe brauchten, um den Kern zu erfassen: In Sachsen müssen Schüler, die nach Abschluss der Klassen fünf bis neun wechseln wollen und bisher nicht an einer deutschen Regelschule waren, grundsätzlich eine Oberschule besuchen, eine Kombination von Haupt- und Realschule. Solche Oberschulen sind "besonders auf den Übergang in berufliche Bildungswege" ausgerichtet.
Das hatten wir nicht erwartet.
Selbst wenn das Schulamt den "Härtefall" anerkennt, muss nachgewiesen werden, dass die bisher besuchte Schule "den Anforderungen des sächsischen Gymnasiums entspricht" – und die Schülerin oder der Schüler muss fünf Aufnahmeprüfungen bestehen. Und zwar in Deutsch, Mathematik, Englisch und wahlweise in Biologie, Chemie oder Physik und in Geschichte oder Geografie mit einer Note von besser als 2,0.
Unsere älteste Tochter Victoria ist eine sehr gute Schülerin, das beweist das Zeugnis ihrer englischen Schule. Victoria war von uns allen diejenige, die auf gar keinen Fall umziehen wollte. Ausgerechnet sie sollte nun gezwungen werden, fünf Prüfungen auf Grundlage des sächsischen Lehrplans zu absolvieren? Das wollten wir nicht von ihr verlangen.
Die internationale Schule in Leipzig wäre für uns die einzige Alternative zu einem Gymnasium gewesen. Aber sie kostet pro Kind um die 10.000 Euro im Jahr, und die Uni Leipzig war nicht bereit, sich an den Schulgebühren auch nur anteilsweise zu beteiligen. Die Schulproblematik gab letztlich den Ausschlag: Ich habe den Ruf abgelehnt."
Datenjournalist Ufuk Olgun, 33, aus der Türkei fühlt sich in Deutschland nicht fair behandelt.
"Für mich gibt es viele Gründe, dass ich dieses Gespräch aus der Türkei und nicht in einem Café in Hamburg oder Berlin führe. Der Triftigste ist wohl, dass der Weg, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen – und sei es ein Touristenvisum –, mit viel Bürokratie verbunden ist. Für Menschen wie mich ist es attraktiver, im eigenen Land hart zu arbeiten. In Deutschland fühle ich mich nicht willkommen, noch immer nicht.
Ich sage das, obwohl ich top ausgebildet bin. Ich habe an der Boğaziçi-Universität in Istanbul meinen Bachelor gemacht. Sie ist eine der renommiertesten Universitäten der Türkei, auch international bekannt für ihre amerikanisch geprägte Lehre.
Istanbul ist eine europäische Stadt, doch in der EU wird selten gesehen, dass wir die gleichen Werte teilen. Das Label ›Recep Tayyip Erdoğan‹ tragen viele Türkinnen und Türken. Weil es leicht ist zu labeln. Nur weil ich Türke bin, soll ich AKP-Unterstützer sein? Ich habe diesen Mann nie gewählt. Dennoch habe ich das Stigma während meiner Studienreisen in Brüssel oder Berlin häufig gespürt. Mit meinem schwarzen Haar und meinem schwarzen Bart bin ich für die Menschen erst einmal Erdoğan – und nur selten Atatürk.
Meinen Master habe ich an der Türkisch-Deutschen Universität gemacht. Bei Politikwissenschaftler Wolfgang Wessels lernte ich, wie wichtig die Europäische Union für ein friedliches Miteinander ist. Ich will Teil dieser Idee sein und das am liebsten in Deutschland. Meine Cousine lebt hier, einige meiner Freunde. Kein Land fasziniert mich gleichermaßen, und eigentlich möchte jeder einmal deutsche Luft schmecken. Ich träume davon, vielleicht für meine Promotion, vielleicht für meine Arbeit als Journalist. Doch ich muss mich fair behandelt fühlen, ohne jedes politische Vorurteil. Solange ich dieses Gefühl in Deutschland nicht spüre, werde ich die Türkei nicht verlassen."
Konzernfachkraft Juventino Sanchez, 46, aus Mexiko kam 2021 nach Deutschland – und beendete seinen Vertrag vorzeitig.
"In meiner Heimat fahre ich seit Jahrzehnten unfallfrei Auto, in Hessen bin ich zweimal durch die praktische Prüfung gefallen und weiß noch immer nicht ganz genau, warum. Mexikanische Führerscheine sind in Deutschland erst mal nur sechs Monate gültig, dann muss man noch mal zur Fahrprüfung. Dafür habe ich sogar Verständnis, denn in Mexiko braucht man nicht unbedingt eine Fahrschule, um den Führerschein zu machen. Ich habe das Autofahren von meinen Eltern gelernt.
Schade finde ich aber, dass sich in der deutschen Fahrschule niemand richtig Zeit nimmt für die Schüler. Ich hatte den Eindruck, die Fahrlehrer sind völlig überlastet. Nach zwei Fahrstunden wurde ich schon zur Prüfung geschickt. Da hätte ich mir eine bessere Vorbereitung gewünscht. Einen dritten Versuch werde ich nicht unternehmen.
Ich hatte in Deutschland einen Arbeitsvertrag für vier Jahre bei einem internationalen Konzern. Aber ich habe mich so gestresst und unglücklich gefühlt, dass wir schon nach eineinhalb Jahren wieder zurück sind nach Mexiko. Mit der Mentalität der Kolleginnen und Kollegen bin ich einfach nicht klargekommen. Ich hatte das Gefühl, ihnen nichts recht machen zu können, und fand die Art, wie mit mir geredet wurde, sehr unhöflich. Eine Kollegin war freundlicher, aber als ich sie zum Grillen einladen wollte, meinte sie, das sei zeitlich schwierig, sie habe schon so viele private Termine, in zwei Monaten vielleicht. Das Treffen kam nie zustande.
Ein interkulturelles Training hat mir geholfen, das Verhalten der Deutschen besser einordnen zu können – aber zu diesem Zeitpunkt war der Umzug zurück nach Mexiko schon organisiert. Ich habe vieles persönlich genommen, was wohl nicht so gemeint war. Insgesamt scheint mir das Leben in Mexiko fröhlicher und unbeschwerter, obwohl wir natürlich auch viele Probleme haben, zum Beispiel mit der Kriminalität.
In Deutschland war meine 16-jährige Tochter abends noch allein unterwegs, das wäre in Mexiko-Stadt undenkbar. Sie war deshalb auch wütend auf mich, als klar war, dass wir vorzeitig wegziehen. Auch ich mochte die kleine Stadt, all die hübschen Gebäude, und alles ist so sauber. Aber ich hatte das Gefühl, mich sehr zurücknehmen zu müssen. Musik laut aufzudrehen habe ich nicht gewagt."
KI-Experte Richard Socher, 40, aus Deutschland bevorzugt das Silicon Valley als Start-up-Standort.
"Nach meinem Informatikstudium wollte ich unbedingt an künstlicher Intelligenz forschen – und zwar mit den besten Wissenschaftlern der Welt an einer Topuniversität. Ich bin in Dresden aufgewachsen, habe in Leipzig studiert und war am Max-Planck-Institut in Saarbrücken, gute Standorte mit guten Leuten. Aber nach meinem Master habe ich auf die Uni-Ranglisten geschaut und fand leider keine deutsche Hochschule in den Top Ten. Mir wurde schnell klar, dass ich in die USA muss. Dort sind die Spitzenunis für Doktoranden, dort sind alle Wissenschaftler, die in der KI-Forschung am häufigsten zitiert werden.
Man kann diese Uni-Ranglisten kritisieren, aber viele internationale Studenten und Fachkräfte richten sich danach. Es ist ein Problem für den Standort Deutschland, dass der Bund nicht klar sagt: Wir wollen eine Uni in den Top Ten haben. Wenn gefördert wird, wird die Summe wegen des Föderalismus auf 16 Länder verteilt. Dann kommt aber leider keine Top-Uni heraus.
Ich bin schließlich nach Stanford zu Christopher Manning und Andrew Ng gegangen, beide sind Koryphäen der KI-Forschung. Kurz nachdem ich angekommen war, habe ich Chris meine Idee vorgeschlagen: neuronale Netze für Sprachverarbeitung zu nutzen. Diese Idee ist heute allgegenwärtig, war jedoch damals verpönt. Er hat gesagt: "Ich habe damit noch nie gearbeitet, aber ich kann es mit dir lernen."
Diese Offenheit hat mich beeindruckt, in Deutschland sehe ich sie weniger oft. In den USA sind mehr Menschen bereit, auch während einer guten Karriere Neues zu wagen. Und sie wagen es, in Innovationen zu investieren. In Kalifornien erhielt ich schon während meines Doktorstudiums mehrere Millionen Dollar Wagniskapital für mein erstes Start-up von einem Venture Capital Fonds.
Heute investiere ich mit meinem Fonds selbst in Start-ups, die meisten sind in den USA, manche aber auch in Deutschland. Ich kann mir kaum vorstellen, wieder zurückzugehen. Meine Partnerin, meine Mitarbeiter und die meisten meiner Freunde leben hier. Und meinem großen Hobby, dem Paramotorfliegen, kann ich auf dem Land in Kalifornien auch besser nachgehen. Ich darf hier mit meinem motorisierten Paraglider einfach aus meinem Garten abheben, in Deutschland müsste ich von einem kleinen Flughafen starten. Und die besonders coolen Füge über Wälder, Klippen oder durch alte Steinbrüche, die ich hier mache, wären in meiner alten Heimat schlicht verboten."
Digitalnomadin María Emilia Rebollo Zanazzi, 39, aus Argentinien wird von hohen Mieten abgeschreckt.
"Ich habe 2017 in Deutschland gelebt, zu jener Zeit habe ich drei Monate mit einem Stipendium im Berliner Büro der internationalen spanischsprachigen Nachrichtenagentur EFE gearbeitet. Durchs Land gereist bin ich auch, es hat mir gut gefallen. In Argentinien sehen viele Deutschland als ein Land der Möglichkeiten, auch wenn man manche Dinge in Kauf nehmen muss, die Kälte zum Beispiel.
Ich hätte mir auch vorstellen können, länger zu bleiben. Aber ich glaube, um sich in Deutschland zu integrieren, ist die Sprache entscheidend. Und Deutsch ist nicht leicht. In meinem Sprachkurs haben wir unglaublich lange Wörter gelernt. Das größte Problem war: Der wichtigste Arbeitgeber – der spanische Dienst der Deutschen Presseagentur – hat damals viele Büros geschlossen.
Heute leben mein Partner und ich als digitale Nomaden, zurzeit arbeiten wir von den Kanaren aus. Wir hätten Interesse daran, nach Deutschland zurückzukehren, aber die Mietpreise sind enorm gestiegen, das ist ein ziemliches Hindernis. Ich habe schon damals für eine kleine Wohnung in Berlin-Friedrichshain 700 Euro bezahlt. Heute sind die Preise unbezahlbar. Um ohne Job dorthin zu ziehen, brauchst du eine sehr gute Basis an Erspartem. In Deutschland zu arbeiten können wir uns nicht leisten. Nach Deutschland reisen werden wir aber auf jeden Fall noch mal. Im nächsten Jahr wollen wir den Berlin-Marathon laufen."
Krankenpfleger Ralf Alcaras, 35, von den Philippinen kam 2016 nach Deutschland. Jetzt zog er nach Texas.
"Ich hätte gerne meine Mutter nach Deutschland geholt, aber das ist kompliziert. Hier in den USA kann man nach fünf Jahren die US-Staatsbürgerschaft beantragen, das ist kein Problem. Außerdem habe ich bessere Aufstiegschancen, muss mich um weniger Patienten kümmern und verdiene jetzt das Dreifache. Mein Traum ist es, eines Tages eine eigene Wohnung zu kaufen. Mit dem Gehalt, das ich als Pfleger in Frankfurt am Main bekommen habe, wäre das nicht einfach gewesen.
Ich hatte eigentlich vor, gleich nach meinem Pflegestudium in die USA zu ziehen. Aber dann hörte ich 2013 von diesem deutschen Anwerbeprogramm. Ein Jahr später habe ich mich beworben.
Meinen ersten Deutschkurs habe ich 2015 noch auf den Philippinen gemacht. Ich dachte, der Start in einem Pflegeheim würde einfach werden. Aber die Sprache und die Kultur waren ein Schock. Ich kannte viele medizinische Begriffe nicht und musste trotzdem vom ersten Tag an voll mitarbeiten, sogar Übergaben zum Schichtwechsel machen, was mich völlig überfordert hat. Nur zum Vergleich: Hier in den USA habe ich eine begleitete Einarbeitungszeit von drei Monaten!
Ich hoffe, dass der Pflegeberuf in Deutschland irgendwann besser anerkannt wird. Dann könnte ich mir eine Rückkehr nach Deutschland vorstellen. Hier in Texas ist es so heiß, dass ich nicht draußen sein will, und die lockeren Waffengesetze und die hohe Kriminalitätsrate machen mir Angst.
Ich vermisse meine Freunde aus Frankfurt, den deutschen Wald und deutsche Brötchen."