Rubrik im PS: | Die Familienunternehmer / Die Jungen Unternehmer |
Autor: | Sonja Álvarez |
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Ressort: | Politik / Deutschland / |
Unternehmen kritisieren Entlastungspaket
"Das ist ein Wahnsinn an bürokratischem Aufwand"
Aktenberge adé? Von wegen. Wenn die Regierung endlich Bürokratie abbauen will, muss sie mehr bieten als ihre neuen Eckpunkte, mahnt Familienunternehmerin Marie-Christine Ostermann.
Erstveröffentlichung: 2023-09-08 14:56:00 letzte Aktualisierung: 2023-09-08 18:24:05
Wenn Marie-Christine Ostermann von ihrem Sortiment erzählt, dann klingt die Firmenchefin stolz – und ratlos zugleich: 20.000 Produkte hat sie mit Rullko im Angebot, seit 100 Jahren liefert das Unternehmen Lebensmittel für Gastronomie und Gemeinschaftsverpflegung. Gerade erst hat Ostermann das besondere Jubiläum des Familienbetriebs in Hamm gefeiert, doch einen Wunsch hat ihr die Berliner Ampel-Koalition noch immer nicht erfüllt: weniger Bürokratie.
20.000 Produkte, 200 Beschäftigte, "wie soll ein mittelständischer Betrieb meiner Größe garantieren, dass weltweit überall alle sämtliche Sozial- und Umweltstandards eingehalten werden?", fragt sich Ostermann: "Das ist ein Wahnsinn an bürokratischem Aufwand".
Schöne Versprechen im Koalitionsvertrag
Diesem "Wahnsinn" will die Regierung eigentlich ein Ende bereiten. Schon im Koalitionsvertrag hatte sie versprochen, dass die Wirtschaft – "insbesondere die Selbstständigen" – "mehr Zeit für ihre eigentlichen Aufgaben" bekommen sollen.
Marie Christine Ostermann. Foto: Anne Großmann Fotografie
Rund eineinhalb Jahre später hat sie bei ihrer Klausurtagung in Meseberg nun die ersehnten Eckpunkte für ein "Bürokratieentlastungsgesetz" vorgelegt – doch nicht nur Ostermann ist enttäuscht. Eine "echte Trendwende", wie sie Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) versprochen hat, sieht anders aus.
"Die Mordsbürokratie ist das allergrößte Hemmnis"
"Die Mordsbürokratie ist das allergrößte Hemmnis, am Standort Deutschland noch zu investieren", warnt Ostermann, die auch Präsidentin des Verbandes der Familienunternehmer ist, im WirtschaftsWoche-Podcast Chefgespräch. Zwar würden viele Vorgaben aus Brüssel kommen, doch in Berlin würden diese sogar "noch mal verschlimmbessert", erklärt Ostermann. Die Regierung habe "zu wenig Verständnis dafür, was im echten Leben, was in der Praxis, in den Unternehmen passiert."
Wie klein Buschmanns Wurf ist, zeigen die vermeintlich besonders großen Errungenschaften: Buchungsbelege müssen künftig nur noch acht statt zehn Jahre aufbewahrt werden, in Hotels muss nicht mehr jeder einzelne Gast einen Meldeschein ausfüllen, verkündet der Minister. 2,3 Milliarden Euro umfasse das Volumen, mit dem die Unternehmen entlastet würden – nur ein Kleckerbetrag angesichts der Bürokratiekosten insgesamt.
Foto: imago images
16,7 Milliarden Euro Bürokratiekosten – ein Rekord
16,7 Milliarden Euro werden jährlich fällig, um neue Vorschriften zu erfüllen, zeigt eine Berechnung des Nationalen Normenkontrollrats. Ein Rekord – und das im Jahr 2023. Aktenberge adé? Nicht in Deutschland, dem digitalen Entwicklungsland.
Ostermann hat dafür ein Beispiel aus der Praxis parat: So gibt es zwar die digitale Personalakte, erzählt sie im Chefgespräch, "trotzdem aber müssen Arbeitsverträge nach wie vor ausgedruckt, analog unterschrieben und abgeheftet werden". Während sich Minister Buschmann also für verkürzte Aufbewahrungsfristen von Belegen feiern lassen will, verstopfen immer mehr Personalordner nicht nur Schränke, sondern inzwischen ganze Bürozimmer.
"Das ist doch völlig absurd", sagt auch Lutz Goebel, Vorsitzender des Nationalen Normenkontrollrats und Geschäftsführender Gesellschafter des Krefelder Antriebsspezialisten Henkelhausen: "Mit den Papierbergen können ganze Räume gefüllt werden. Wie das den Arbeitnehmerschutz verbessern soll, erschließt sich mir nicht."
Während sich die Regierung in Meseberg lediglich auf Eckpunkte zur Bürokratieentlastung einigen kann, übertrifft das seit Januar geltende Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz bereits sämtliche Befürchtungen der Unternehmen, wie eine bundesweite Befragung des Arbeitsgeberverbands Gesamtmetall unter seinen Mitgliedern im Juni zeigt.
So rechnen kleine Betriebe mit Zusatzkosten von rund 30.000 Euro im Jahr, Mittelständler mit rund 69.000 Euro – und zwar deshalb, weil für die Bürokratie zusätzliches Personal eingestellt werden müsse sowie mehr Geld für externe Dienstleister und den nochmaligen Ausbau des Compliance-Bereiches ausgegeben werden, heißt es bei Gesamtmetall.
Wer profitiert? Die Beratungsfirmen
Aus Ostermanns Sicht wäre eine "Safe Harbour"-Lösung der bessere Angang für das Lieferkettengesetz gewesen. Brüssel hätte Zulieferbetriebe zertifizieren können, ein einmaliger Aufwand statt ständig neue Nachweispflichten durch Unternehmen, die dann "sorgenfrei hätten Geschäfte machen können", erklärt die Rullko-Chefin.
Immerhin eine Branche könne von Deutschlands Bürokratiemonster profitieren, sagt Andre Schulte-Südhoff, Geschäftsführer vom Filtertechnikspezialisten Schuko: "Beratungsunternehmen – da man das als kleines oder mittleres Unternehmen nicht selbstständig umgesetzt bekommt."
Wir war das noch mit dem Versprechen der selbst ernannten Fortschrittkoalition? Mehr Zeit schaffen für "die eigentlichen Aufgaben"? Ostermanns Zwischenbilanz ist ernüchternd: "Wir ertrinken in Bürokratie."