Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 07.05.2024, S. 15 (Tageszeitung / täglich außer Sonntag, Frankfurt am Main)
Rubrik im PS: | Gesundheitspolitik und Digitalisierung |
Autor: | Christian Geinitz |
Auflage: | 185.662 |
Reichweite: | 822.887 |
Quellrubrik: | Wirtschaft |
Der Ärztetag braucht neuen Mut
Der Deutsche Ärztetag, der bis Freitag in Mainz zusammentritt, sollte dort schon vor zwei Jahren stattfinden. Doch zum ersten Mal seit der Wiederaufnahme der Traditionstagung nach dem Zweiten Weltkrieg fiel sie aus; wegen der Corona-Pandemie. Bezeichnenderweise war es dann eine Innovation aus der rheinland-pfälzischen Hauptstadt, die Schlimmeres verhütete. Das Unternehmen Biontech brachte einen Impfstoff auf den Markt, rettete unzählige Menschen und führte zu einem kleinen Wirtschaftsaufschwung in der Heimat.
Das Tempo und den Erfolg solch umstürzlerischer Entwicklungen wünscht man auch den Reformbemühungen im Gesundheitswesen. Leider jedoch mahlen die Mühlen dort langsam, auch unter der aktuellen Bundesregierung. Obgleich Ressortchef Karl Lauterbach seine Anstrengungen im Krankenhauswesen als "Revolution" verkauft, verläuft die Veränderung doch ähnlich halbherzig wie die meisten deutschen Revolutionen. Wenn Lauterbach seine Vorlagen nicht bis zum Jahresende durchs Parlament bringt, dürften sie im Wahlkampfjahr 2025 untergehen.
Die Klinikreform und ein erstes Versorgungsgesetz hatte der SPD-Politiker schon für Ende 2023 angekündigt, den Umbau der Notfallversorgung für dieses Jahr. Auch eine neue Approbationsordnung stand angeblich kurz vor dem Abschluss. Verwirklicht wurde bisher keines dieser Vorhaben, auch die langfristige Stabilisierung der Krankenkassenfinanzen nicht. Immerhin liegen jetzt zwei Entwürfe vor, die als Eckpfeiler von Lauterbachs Versuch gelten können, die Patientenbetreuung auf neue Füße zu stellen. Das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz soll Struktur und Finanzierung des stationären Angebots zum Positiven drehen, das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) hat Ähnliches ambulant vor.
Beide Ansätze stoßen auf Widerstand und dürften auch die Diskussionen auf dem "Ärzteparlament" in Mainz dominieren. Die nach dem Protest bereits erfolgten Abstriche am GVSG sind besonders augenscheinlich. Der auch als Ambulanz- oder Hausärztegesetz bekannte Entwurf ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Ursprünglich hatte Lauterbach Gesundheitskioske als erste Anlaufstellen in strukturschwachen Regionen und Brennpunkten geplant. Nach Intervention der FDP verzichtete er darauf. Zum Glück, denn die neuen Einrichtungen hätten viel Geld gekostet und wenig gebracht. Sie waren eher linker Sozial- als vorausschauender Gesundheitspolitik entsprungen.
Schlimmer wiegt, dass Lauterbach auch beim Streichen der Erstattung homöopathischer Leistungen durch einige Krankenkassen einknickte. Diese Beitragsverschwendung zu beenden wäre überfällig, auch in der Kinderheilkunde. Nach wie vor beklagt der Minister, dass jedes Jahr Tausende Hausärzte fehlten. Aber die Aufstockung der Medizinstudienplätze um 5000 im Jahr fiel ebenfalls aus dem Entwurf, weil sich die Kassen weigerten, die Kosten mitzutragen. Richtig wäre gewesen, den Aufwand zum Teil den jungen Leuten selbst aufzuerlegen, über Studiengebühren, flankiert von Krediten, wie es andernorts gut funktioniert.
Die Abläufe in den Praxen zu straffen, die Wartezimmer zu leeren und mehr Zeit am Patienten zu ermöglichen ist richtig: mit mehr Digitalisierung und weniger Bürokratie und auch über den Verzicht auf die rein abrechnungstechnisch gebotene Quartalsvorstellung gut eingestellter Chroniker. Die Hausärzte zu stärken weist in die richtige Richtung. Die (freiwillige) hausarztzentrierte Versorgung bedeutete ja nicht, Fachärzte einzuschränken oder die freie Arztwahl auszuhebeln, sondern den Wildwuchs zu begrenzen. Die Budgets abzuschaffen muss vorsichtig geschehen, um Fehlanreize zu vermeiden. Man könnte darüber nachdenken, wie in der Privatliquidation, Rechnungen an Patienten auszuhändigen, diese an bestimmten Kosten zu beteiligen, Beitragsrückzahlung bei Leistungsverzicht einzuführen oder nach Einkommen gestaffelte Zusatzversicherungen anzubieten. Das würde die übermäßige Inanspruchnahme und Abrechnung schnell verringern.
Natürlich gäbe es dagegen lautes Geschrei. Aber ohne Effizienzsteigerung ist das System nicht mehr lange tragfähig. Geld und Personal sind da: Deutschland gibt je Kopf mehr aus als vergleichbare Länder und leistet sich auch mehr Beschäftigte – ohne dass die Betreuung besser wäre. Die üppigen Einnahmen wirksamer einzusetzen wäre eine echte Revolution. Dafür braucht es Mut, wie bei jeder Umwälzung. Es steht zu wünschen, dass die Mediziner diesen aufbringen. Darüber sollten sie auf dem Ärztetag in Mainz einmal sprechen.